Die ständige Beschäftigung mit essen und nicht essen sollen ist der Alltag von magersüchtigen Menschen.

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Die Zahl schwerer Essstörungen ist während der Pandemie drastisch gestiegen. Laut einer aktuellen Studie hat die Häufigkeit von schweren Essstörungen während Corona um fast die Hälfte zugenommen. Nach wie vor sind vor allem Mädchen und Frauen betroffen, Schätzungen gehen von etwa 90 Prozent der Betroffenen aus. Aber auch die Anzahl der Essstörungen bei Männern steigt seit Jahren. In Deutschland stieg 2019 und im ersten Corona-Jahr 2020 der Anteil der 18- bis 24-jährigen Männer mit einer entsprechenden Diagnose um fast 19 Prozent.

Sophie Matkovits hatte lange weder Probleme mit Essen noch mit ihrem Körper. Doch einschneidende Veränderungen lösten bei ihr eine schwere Magersucht aus. Die heute 30-Jähre hat gemeinsam mit ihrer Therapeutin Brigitte Lehnhard-Backhaus ein Buch über ihre Genesung geschrieben, das kürzlich erschienen ist.

STANDARD: Wann hat Ihre Essstörung angefangen?

Matkovits: Einen genauen Zeitpunkt gab es nicht. Essstörungen kommen oft schleichend. Bei mir hatte es viel mit den Veränderungen zu tun, als ich mein familiäres Nest im Burgenland verließ und nach Wien übersiedelte. Ich musste das erste Mal für mich selbst einkaufen, das erste Mal für mich kochen, für mich selbst sorgen. Ich war auch mit dem Studium, das ich begonnen habe, nicht glücklich und sah gleichzeitig keine Alternativen. Das war ein Punkt, der für mich als zielstrebige Person sehr schwierig war. Ich wusste sonst eigentlich immer, wohin es gehen sollte, und jetzt stand ich morgens auf und fragte mich: Was mach ich eigentlich?

STANDARD: Da waren Sie wie alt?

Matkovits: 18. Ich bin gleich nach der Matura nach Wien gezogen und musste eben feststellen, dass der Auszug aus meinem Elternhaus gar nicht so leicht war wie erwartet. Meine Eltern und ich waren es stets gewohnt, gemeinsam zu Abend zu essen, haben den Tag gerne zusammen Revue passieren lassen, und plötzlich saß ich alleine in meiner Wohnung beim Esstisch. Der Auszug war das eine, das Nachhausekommen an den Wochenenden das andere – wir mussten uns alle an die neue Situation, die neue Art des Zusammenlebens gewöhnen, und so kam für mich die Frage auf, wo ist mein Platz, und wie läuft es dann ab, wenn ich nach Hause komme? Retrospektiv waren es mehrere Faktoren, aber insgesamt war ich unheimlich orientierungslos und habe Halt gesucht. Wo gehöre ich hin, wer will ich sein?

Sophie Matkovits, Brigitte Lehnhard-Backhaus, "Hunger auf Leben. Wie mir die Befreiung aus meiner Essstörung gelungen ist". 24 Euro / 176 Seiten, Kneipp-Verlag, 2022
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STANDARD: Und inwiefern beeinflusste das dann Ihr Essverhalten?

Matkovits: Genaue Essenspläne sagen einem, was gut und was schlecht ist. Darin fand ich damals Orientierung und Halt. Am Abend konnte ich mir sagen, dass ich den Tag heute gut gemeistert habe, weil ich mich an meinen Essensplan gehalten habe. Wenn du das isst, ist es gesund, wenn du das nicht isst, ist es auch gesund, und wenn du das weglässt, ebenso. Ich war nie übergewichtig und habe trotzdem begonnen, mich anders zu ernähren und viel Sport zu machen.

STANDARD: Es ging Ihnen also um Kontrolle?

Matkovits: Genau. Die Waage ist das Instrument, das entscheidet, ob ein Tag gut oder schlecht verlaufen ist. Die Waage sagt, du hast abgenommen, das war ein guter Tag, oder es war ein schlechter, weil du zugenommen hast. Das heißt, man entwickelt ein Schwarz-Weiß-Denken und hat so etwas wie ein "Wertegerüst". Gerade zu Beginn gibt es auch sehr schnelle Erfolge. Wenn man da die Milch weglässt und dort das Brot, nur einen Salat isst oder am Abend nach 18 Uhr nichts mehr, dann wirkt sich das relativ schnell auf die Waage aus. Und mit den Erfolgen kommt dann der Ehrgeiz, und man will weitermachen.

STANDARD: Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass das ein großes Problem wird?

Matkovits: Ich glaube, wirklich bewusst geworden ist es mir durch die sehr heftigen Diskussionen mit meinen Eltern. Ich war mit meiner Mutter mal Kleidung einkaufen und stand dann in einem Geschäft und sagte über eine andere junge Frau: "Schau, die ist ja wahnsinnig dünn!" Meine Mama schüttelte traurig den Kopf und sagte streng: Schau dich mal selber an! Sie war verzweifelt und konnte nicht verstehen, warum ich alle anderen als so dünn wahrnahm, aber mich selbst nicht. Es ist eine Ohnmacht, die Eltern verspüren, weil ihnen ihre Kinder erklären, sie seien zu dick, und immer weiter abnehmen – und sie können nichts tun.

Brigitte Lehnhard-Backhaus hat das Therapiezentrum Intakt mitbegründet und gemeinsam mit Sophie Matkovits das Buch "Hunger auf Leben" geschrieben.
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STANDARD: Sie konnten also Ihren Körper nicht mehr richtig wahrnehmen?

Matkovits: Ja, aufgrund der Mangelernährung ist tatsächlich die Wahrnehmung verzerrt, und man sieht deshalb wirklich anders. Das ist also kein Spleen, sondern man kann sich tatsächlich nicht mehr richtig erfassen. Das ist unheimlich gefährlich! Man schaut auch permanent auf andere und hat immer das Gefühl, dass alle viel dünner sind, eine bessere, sportlichere Figur haben. Man beschäftigt sich einfach rund um die Uhr mit dem Thema Essen, mit der Figur anderer Leute und der eigenen.

STANDARD: Für viele Mädchen fängt die enorm kritische Beschäftigung mit ihrem Körper in der Pubertät an. Wie war das bei Ihnen?

Matkovits: In der Pubertät war das für mich überhaupt kein Thema. Doch die Pubertät ist auch so ein Knackpunkt, ein Übergang. Meine Therapeutin erklärte mir, Essstörungen sind eine "Brückenkrankheit". Das heißt, sie treten meist dann auf, wenn sich im Leben etwas verändert. Ein Schulwechsel, wenn sich der Körper verändert oder man eine Ausbildung wechselt. Eben dann, wenn man Orientierung sucht.

STANDARD: Hat Sie Ihr soziales Umfeld auf Ihr Essverhalten angesprochen?

Matkovits: Ja, also meine Eltern haben mir das sehr stark gespiegelt. Ich finde das aus der heutigen Perspektive super. Angehörige sollen Betroffene ansprechen, auch wenn man sich erst nicht traut, doch ist es wichtig, die Konfrontation zu suchen. Das ist sicher schwierig, man will ja nicht, dass das Kind weint, traurig ist und sich dadurch womöglich noch stärker abwertet und noch weniger isst. Deshalb versuchen viele, Konflikte zu vermeiden. Nach mehreren Eklats mit meinen Eltern ging ich zu einem Arzt, der dann auch meine Magersucht diagnostiziert hat.

STANDARD: Wie ging es Ihnen dann mit dieser Diagnose?

Matkovits: Ich schreibe das auch ganz offen in meinem Buch: Ich war ein Stück weit stolz darauf. Dass ich es endlich geschafft habe, so viel zu hungern, dass man sieht: Ich bin krank, es geht mir nicht gut. Ich kam dann zum Intakt-Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen. Neben Psychotherapeut:innen arbeiten dort auch Fachärzt:innen für Interne Medizin und Psychiatrie. Die Internistin hat immer rasch gesehen, wo ich mich beim Essen rausschwindeln wollte.

STANDARD: Wie nehmen Sie Magersucht medial wahr?

Matkovits: Ich bin jedenfalls froh, dass Social-Media-Kanäle wie Instagram noch nicht so stark präsent waren, als ich krank war. Als ich für meine Hochzeit ein Brautkleid im Netz suchte, kamen sofort Vorschläge zu Diäten und Essensplänen. Das sind also Situationen, wo man animiert wird abzunehmen. Nur wenige wissen, dass man Werbungen zu solchen Themen in den Apps auch reduzieren kann. Problematisch ist auch die Verbreitung von Tagesabläufen in sozialen Medien, mit exzessivem Sport und ganz gesundem Essen – alles Low Carb. Meine Therapeutin erzählte mir, die Antworten von Magersüchtigen, wie es begonnen hätte, haben sich im Laufe der Zeit stark verändert. Betroffene sagen nicht mehr, dass sie über mehrere Diäten in diese Krankheit geschlittert sind, sondern dass sie besonders gesund leben wollen. Wir sehen es auch an Produkten bzw. der Kommunikation: Man spricht weniger von Diätprodukten, sondern von High-Protein-Produkten. Der Sport, das Gesunde steht im Mittelpunkt, nicht mehr die Diät oder das Abnehmen per se, auch wenn die Inhalte der Produkte oft dieselben sind. Die Sprache hat sich also stark geändert, ohne dass sich an dem Problem etwas geändert hätte.

STANDARD: Fühlen Sie sich heute genesen?

Matkovits: Ja, ich gehöre Gott Sei Dank zu den 30 Prozent, die geheilt werden. Weitere 30 Prozent lernen, damit zu leben und zu arbeiten. Es ist für mich tatsächlich kein Thema mehr, ich stehe in der Früh nicht auf und denke darüber nach, was ich heute essen oder nicht essen darf. In vielen Situationen kann ich mich genau darüber freuen: dass ich kein schlechtes Gewissen habe oder mich sonst irgendwie schlecht fühle, wenn ich eine ganze Pizza esse. (Beate Hausbichler, 3.10.2022)