Eine Autokolonne an der russisch-georgischen Grenze.

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Pierre Servent ist in Frankreich ein bekanntes Gesicht: Der 68-jährige französische Militärstratege und Publizist kommentiert für viele Medien Fragen der europäischen Sicherheit und Verteidigung – momentan vor allem rund um den Krieg in der Ukraine. Als Reserveoffizier mit früheren Einsätzen in Afghanistan, Afrika und dem Balkan verfügt er über beste Kontakte zu Geheimdiensten im Nato-Raum. Früher auch Sprecher des französischen Verteidigungsministeriums, hat Servent zahlreiche Bücher über den Zweiten Weltkrieg und französische Präsidenten verfasst.

Militärexperte Servent: "Putin hat einen Raubtiercharakter, er versteht nur das Recht des Stärkeren."
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STANDARD: Haben Sie eine Erklärung für die Pipeline-Sabotage in der Ostsee?

Servent: Ich kann auch nur eine Annahme treffen, da bisher keine gesicherten Daten vorliegen. Es könnte sich um eine russische Spezialoperation mittels U-Boot-Roboter handeln, der Sprengsätze angebracht hat. Ziel wäre eine psychologische Aktion mit dem Ziel, den Europäern eine Botschaft zukommen zu lassen: Hört auf, den Ukrainern Waffen zukommen zu lassen. Heute zeigen wir euch unsere Kapazität, leere Pipelines zu treffen, morgen könnten wir die Leitung aus Norwegen zerstören. Dazu käme eine Bedrohung der Meeres-Internetkabel. Aber ich betone, das ist eine persönliche Interpretation, keine gesicherte Information.

STANDARD: Im Hintergrund geht es also um die Bewaffnung der Ukraine. Wird der Krieg in der Ukraine noch lange dauern?

Servent: Das ist äußerst schwer zu sagen. Niemand weiß, was nach den Pseudoreferenden in der Ostukraine passieren wird; niemand könnte sagen, ob sich die Proteste gegen die Teilmobilisierung in Russland ausweiten werden. Selbst die Frage, wie isoliert Putin ist, lässt sich kaum beantworten, obschon die Unterstützung durch China, Indien und die Türkei beim Samarkand-Gipfel relativ flau schien.

STANDARD: Wie ist die militärische Lage?

Servent: Die Ukrainer haben mit ihrer jüngsten Offensive die Dynamik auf ihrer Seite. Und ihre taktischen Erfolge kommen nicht von ungefähr: Sie haben strukturelle Gründe. Kiew profitiert vom Nachrichtendienst der Amerikaner und Europäer und hat eigene Leute hinter den russischen Frontlinien. Ferner haben die Ukrainer modernes Kriegsgerät, so sehr ihnen schwere Panzer und Kampfjets fehlen. Sie lernen sehr schnell und haben eine gute Truppenmoral, da sie an den Sieg glauben.

STANDARD: Ein Kontrast zur russischen Seite ...

Servent: Ja, die Russen sind weit entfernt von der Koordination der ukrainischen Armee, bei der Heer und Luftwaffe, Infanterie und Artillerie, Logistik und Genie eng zusammenarbeiten. Das Einzige, was die Russen beherrschen, ist die Zerstörung ganzer Städte, mit dem Tod zahlloser Zivilisten. Die russischen Soldaten sind schlecht motiviert. Das gilt noch stärker für die Reservisten, die Putin nun einberuft.

STANDARD: Die Russen beherrschen aber weiterhin 120.000 Quadratkilometer ukrainisches Terrain. Im Süden kam die ukrainische Offensive bei der Stadt Cherson nicht weit.

Servent: Das war zum Teil eine Scheinoffensive, um russische Truppen aus dem Donbass anzuziehen. Die Ukrainer können mit Rücksicht auf die Zivilisten nicht einfach eine Stadt wie Cherson bombardieren, wie das die Gegenseite tut. Wenn die Russen eine Stadt einnehmen wollen, zerstören sie sie einfach zu 80 oder 90 Prozent, wie 1996 in Grosny. Die Ukrainer visieren deshalb eher auf das russische Armeekorps in der Dnjepr-Schlaufe. Sie suchen es in einer Art "Stalingrad" einzukesseln und mit dauerndem Artilleriebeschuss zu belegen.

STANDARD: Wenn Sie von Stalingrad sprechen: Haben die Russen im Zweiten Weltkrieg nicht vorgemacht, dass sie über ein unerschöpfliches Reservoir an Truppen verfügen, das sie als Kanonenfutter einsetzen und mit dem sie 1945 sogar die Wehrmacht zurückwarfen?

Servent: Dieser Masseneffekt spielt in der teils verschachtelten Ukraine weniger eine Rolle als in den weiten Steppen des Zweiten Weltkriegs. Wenn der russische Generalstab nun 300.000 Mann aufbietet, halst er sich damit womöglich mehr Probleme auf, als er löst. Diese Truppen sind ein leichtes Ziel für die ukrainische Artillerie. Sie haben kaum Tarnung, schlafen teils in Kartonkisten.

STANDARD: Was die Truppenmoral auch nicht gerade fördert.

Servent: In Moskau traut die Duma den eigenen Soldaten nicht mehr: Das Parlament hat die Strafen für Deserteure und Materialdiebe heraufgesetzt, und dies nicht erst bei der Teilmobilisierung. Das sagt viel aus über den Zustand der Truppen. Wobei nicht alle Reservisten an die Front kommen. Viele ersetzen in Russland in den Kasernen besser ausgebildete und bewaffnete Regimenter, die stattdessen an die Front geschickt werden. Ihr Einsatz wird allerdings noch Monate in Anspruch nehmen.

STANDARD: Welcher Seite nützt der kommende Winter?

Servent: Im Herbst bremsen die nassen Böden die ukrainischen Offensivtruppen. Sie dürften deshalb im verbleibenden Jahr eher einen Partisanenkrieg hinter den russischen Linien aufziehen, mit gezielten Attacken auf Truppen, Treibstofflager und Material. Dazu kommen Nachteinsätze per Hubschrauber oder auch zu Fuß. In der Krim waren solche Operationen sehr wirksam. Im Winter, wenn die Böden hart sind, könnte Kiew dann neue Offensiven starten.

STANDARD: Was kann Putin dagegen tun?

Servent: Er dürfte noch mehr Truppen aufbieten, treu seiner überholten Armeeplanung aus dem 20. Jahrhundert. In seinem eigenen Land könnte er zudem das Kriegsrecht ausrufen, falls die Polizei die Lage nicht mehr in den Griff kriegt. Das Kriegsrecht würde es ihm erlauben, Unternehmen zu requirieren und die Freiheiten noch ganz aufzuheben. Jede missliebige Berichterstattung durch ausländische oder heimische Medien würde verboten, oder auch nur Handyvideos. So weit ist es allerdings noch nicht: So spektakulär die Proteste gegen außen wirken, beschränken sie sich bisher auf wenige Rekrutierungszentren und Randgebiete.

STANDARD: Wäre das Kriegsrecht ein weiterer Schritt hin zum Einsatz von Atomwaffen?

Servent: Nein, wenn Putin Atomwaffen einsetzen will, braucht er dafür das Kriegsrecht nicht.

STANDARD: Sind seine Drohungen ernst zu nehmen?

Servent: Man muss die Drohungen dieser Person leider ernst nehmen. Ich gehörte zu den wenigen, die zu Jahresbeginn glaubten, dass Putin die Ukraine wirklich angreifen würde. Das sage ich deshalb, weil ich heute nicht glaube, dass Putin Atomwaffen einsetzen würde. Ihre Zerstörungswucht ist gewaltig: Selbst die taktischen Nuklearwaffen – die schwächer sind als die strategischen – sind noch zehnmal stärker als die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 mit 200.000 Toten. Putin kann es sich nicht leisten, in Kiew, wo auch viele Russen und Russlandfreunde leben, zwei Millionen Menschen umzubringen. Die Retorsionsmaßnahmen des Westens wären massiv. Putin würde auch die Unterstützung der Chinesen, Inder und Türken verlieren. Seit Hiroshima sind Atomwaffen ein Tabu. Setzt sie Putin ein, weil er mit konventionellen Waffen nicht weiterkommt, würde er völlig isoliert und aus der Weltgemeinschaft verbannt werden. Das wäre sein Ende. Aber Putin hat andere Möglichkeiten.

STANDARD: Welche?

Servent: Ich denke an den Einsatz chemischer Waffen – nicht direkt, sondern durch den Angriff auf die Nitrat- und Ammoniak-Lager der wichtigen ukrainischen Düngerwirtschaft. Nach dem üblichem Szenario würde Putin dann behaupten, die Ukrainer hätten die Lager gesprengt, um sie als chemische Waffen gegen die Russen einzusetzen. So wie Putins Verbündeter Bashar al-Assad in Syrien die Opposition verantwortlich machte, nachdem er chemische Waffen gegen Zivilisten eingesetzt hatte.

STANDARD: Sollten Westpolitiker wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron trotz der bisherigen Wirkungslosigkeit – und trotz aller Kriegsverbrechen und Staatslügen – weiter mit Putin telefonieren?

Servent: Ja, dieser Kanal sollte bestehen bleiben, auch wenn wir uns keinerlei Illusionen hingeben dürfen.

STANDARD: Was meinen Sie: Sollte Putin geschont werden, damit er sich nicht in die Enge gedrängt fühlt und noch gefährlicher wird – oder gehorcht er, wie Sie schon vor dem Krieg erklärt hatten, nur dem Recht des Stärkeren?

Servent: Das Letztere: Putin hat einen Raubtiercharakter, er versteht nur das Recht des Stärkeren. (Stefan Brändle, 29.9.2022)