Thomas Melle über das erotische Schicksal der Anfang-Vierziger: hier ein Nachbau des Autors als Roboter (durch Rimini Protokoll, 2021).

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Schwer zu sagen, was einer Dohle beim Akt der Begattung alles durch den gefiederten Kopf geht. Das leichte Leben, so der Titel von Thomas Melles neuem Roman, haben die Singvögel uns Menschen jedenfalls voraus. Sie vermehren sich, wie Melle gleich auf der ersten Buchseite weiß, reichlich unkompliziert, und zwar durch schlichtes "Vögeln".

Im Hauptstadtmilieu der Reichen und Schönen hingegen gesellt sich zum Paarungstrieb ein regelrechtes Set von fixen Ideen und schnöden Zwängen. Mit der Verfügbarkeit der Schleimhäute allein ist es nicht getan. Kathrin, die ehemals gehypte Erfolgsautorin, fühlt sich nur dann erregt, wenn sie "ans Tiersein, ans Dingsein, an Glory Holes und Dark Rooms und Trennwände" denkt.

Melles Roman erfüllt beinahe sämtliche Bedingungen, um als Satire durchzugehen. Er schürft nicht tief, möchte aber zugleich keinen Fettnapf auslassen. Voilà: Kathrin verlustiert sich auf einer Sexparty.

In ihrer Ehe mit Boulevard-TV-Moderator Jan ist sie materiell zwar auf Daunen gebettet. Dennoch vermisst sie schmerzlich das animalische Behagen im Umgang mit maskierten Partnern – womöglich solchen, denen, zeitgleich zum "Pumpen", ein "unerhörtes Schimpfwort für ihren Anus" einfällt.

Das Außer-sich-Sein

Der Befund ist schwierig, liegt aber auf der Hand: Einerseits will jeder Hedonist außer sich geraten. Sein Triebziel besteht im Versprechen einer möglichst permanenten Ekstase. Andererseits fürchtet der Wohlstandsbürger (gleich welchen Geschlechts) nichts mehr als den Kontrollverlust. Kaum ist die Orgie vorüber, plagt die Liebesabenteurerin auch schon der Katzenjammer. Als ewiger Feind lauert im Verborgenen die bürgerliche Sexualmoral.

Überhaupt herrscht unter den Kulturarbeitern – und notabene unter ihren wohlstandsverwahrlosten Kindern – Wortgeilheit. Ganz egal, was Drüsen und Oberstübchen hergeben, alles muss raus. Angespornt vom Hochleistungsgeschehen auf Youporn, verfallen Melles Figuren in eine Art Dauererregung. Unentwegt müssen sie die Stellen, an denen es sie juckt, auch noch verbalisieren.

Zu beklagen bleibt hier nicht bloß das Kreuz der Promiskuität. Eher schon denkt man an ein semipornografisches Ballett von Duracell-Hasen. Jan sieht sich Erpressungsversuchen ausgesetzt: Anonyme behelligen ihn mit Nacktbildern aus seiner Zeit als missbrauchter Schulzögling. Kathrin wiederum kompensiert ihr Scheitern als Autorin, und zwar mit pädagogischer Arbeit in einer Brennpunktschule mit sozialer Durchmischung.

Ausgerechnet ein Schüler namens Keanu hat es ihr angetan. Nicht nur seines abgeschmackten Vornamens wegen zieht das Bürschchen Begehrlichkeiten auf sich, es sieht auch noch aus wie der Hollywood-Mime namens Reeves. Obendrein verbirgt Keanu ein dunkles Geheimnis. Es scheint nur zu folgerichtig, dass ihm die Schulkameraden bei der Videokonferenz im Netz einen gehörigen Pornobären aufbinden.

Der kleine Hunger

Die Lebenswelt dieses Romans gleicht einer RTL-Vorabendserie aufs Haar: einer solchen, die sich um eine Prämierung mit dem Grimme-Preis bemüht. Für den kleinen Bildungshunger zwischendurch reicht Melle Zitathäppchen. Dann brummt es nach Nabokov ("Lolitus"), oder es schmeckt nach Thomas Mann, freilich in der Puffreisvariante.

Man verrät nicht zu viel, wenn man mitteilt, dass die Sache – wenigstens für Jan – kein gutes Ende nimmt. Manchmal hackt eine Dohle der anderen eben doch ein Auge aus. Zugleich verliert der Autor seinen Plot mit Fortdauer des Buchs etwas aus dem Blick. Zu verliebt scheint Melle, der bereits zweimal auf der Liste für den Deutschen Buchpreis stand, in die Bestandsaufnahme einer Welt, die unaufhörlich zur sexuellen Mobilmachung drängt.

Zwei Körper, schreibt Melle, haben die Öffentlichkeitsarbeiter wie Kathrin und Jan zur Verfügung: einerseits den nackten, physischen, der mit allerlei Makeln und Verfallserscheinungen behaftet ist. Dazu kommt der andere, um so vieles wichtigere "des Geredes, des Diskurses, der Projektionen und Worte". Das leichte Leben ist kein sonderlich wichtiges, aber ein ziemlich erheiterndes Buch. Es zeigt die Menschen, die so gut kopulieren wie sie kolloquieren: auf der Höhe des nächstbesten Internetangebots. (Ronald Pohl, 29.9.2022)