Die Causa Hans Niemann erschüttert den Schachsport. Weltmeister Magnus Carlsen wirft dem Youngster Betrug vor, ohne jedoch konkrete Beweise zu liefern. Experten durchforsten und analysieren seither alle Spiele des 19-jährigen US-Amerikaners. Ins Zentrum des Interesses ist eine Partie gegen Matthieu Cornette gerückt. Im STANDARD erinnert sich der französische Großmeister, der Austausch fand schriftlich statt.
STANDARD: Sie haben 2020 gegen Niemann verloren. Hatten Sie damals das Gefühl, dass Ihr Gegner über seine Verhältnisse spielt?
Cornette: Ich kannte Hans vor dem Spiel nicht. Mir wurde gesagt, dass er ein vielversprechender junger Mann sei, der seine Blitzpartien streamt. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er bereits von Chess.com gesperrt worden war. Während der Partie sah ich nichts Verdächtiges. Aber es liegt nicht in meiner Natur, paranoid zu sein.
STANDARD: Wie hat sich die Partie gestaltet?
Cornette: Ich hatte eine gute Position und machte dann einen sehr schlechten Zug. Danach hat er mich buchstäblich überrollt. Ich war beeindruckt, weil ich nicht mit all seinen Zügen gerechnet hatte. Aber es war nichts Unmögliches.
STANDARD: Manche Beobachter sehen das anders, als hätte Niemann am Rande der Perfektion gespielt.
Cornette: Viele Leute haben diese Partie überprüft, und je nachdem, welcher Computer und welches Modul benutzt wurden, ändert sich das Ergebnis. Es war so oder so eine sehr gute Partie. Aber ich hätte nicht gedacht, dass diese Begegnung später so ausführlich besprochen wird.
STANDARD: Ist es ungewöhnlich, dass junge Spieler auf einem derartigen Niveau spielen können?
Cornette: Ich habe gegen Carlsen gespielt, als er 17 Jahre alt war. Ich habe mich mit fast allen großen Hoffnungsträgern gemessen. Ich weiß, dass man in jungen Jahren sehr stark sein kann. Gegen Niemann spielte ich in einem Dezember, er kam im T-Shirt und mit Sandalen. Als ich mich nach der Partie eine Minute mit ihm unterhielt, wurde mir schnell klar, dass er extrem eingebildet ist. In Frankreich sagen wir "un petit con".
STANDARD: Können Sie Carlsens Vorgehen in der Causa nachvollziehen?
Cornette: Ich verstehe sein Vorgehen, aber die Form hat mir nicht gefallen. Seine Pressemitteilung war recht inhaltslos. Ich denke und hoffe, wir werden bald mehr erfahren. Die Art und Weise, wie Magnus das Turnier abgebrochen hat, war ungeschickt. Er glaubt offensichtlich, dass sein Gegner betrogen hat und dass er nun im Sinne des Schachsports handeln muss. Aber man ist unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist. Betrügen ist schrecklich, aber jemanden fälschlicherweise zu beschuldigen ist auch sehr schlecht.
STANDARD: Haben Sie die besagte Partie zwischen Carlsen und Niemann analysiert?
Cornette: Ja, und ich hatte nicht den Eindruck, dass während dieser Partie geschummelt wurde. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Hans ein talentierter und sehr starker Spieler ist. Sein Blitzspiel gegen Blitzweltmeister Maxime Vachier-Lagrave vor kurzem in Paris hat das bewiesen.
STANDARD: Ist Betrug im Schach ein Problem, das die heutige Aufmerksamkeit verdient?
Cornette: Das Problem ist sehr ernst zu nehmen, bisher wurde es immer ein wenig verdrängt. Als während der Lockdowns viele Turniere online stattfanden, wurde auch zu wenig darüber gesprochen. Die Probleme mit dem Schummeln fangen so richtig an, wenn es ein starker, intelligenter Spieler macht. Einer, der nicht bei jedem Zug, nicht in jeder Partie schummelt.
STANDARD: Was bedeutet die ganze Diskussion für den Schachsport?
Cornette: Das Ganze ist eine traurige Angelegenheit. Man kann nur hoffen, dass es die Dinge voranbringt. Für große Turniere sind Lösungen möglich. Partien, die zeitversetzt online übertragen werden. Gelegentliche Kontrollen der Spieler. Keine elektronischen Geräte. All das gibt es, aber nicht immer. Dort muss man ansetzen. (Philip Bauer, 28.9.2022)