Der iranische Präsident Ebrahim Raisi.

Foto: Imago / Zuma Wire / Iranian Presideny

Teheran – Die durch den Tod einer jungen Frau ausgelösten Proteste im Iran halten an. Am Mittwoch wurde die Tochter eines Ex-Präsidenten wegen Unterstützung der Proteste verhaftet. Präsident Ebrahim Raisi bezeichnete die regierungskritischen Proteste als Verschwörung gegen die Führung des Landes. "Das sind Verschwörungen der Feinde gegen Irans Führung, weil sie sich von der Dominanz, dem Einfluss und Fortschritt des Systems bedroht fühlen", sagte er am Mittwoch.

VIDEO: Die Sittenpolizei im Iran kann jederzeit Frauen festhalten und "belehren". Wie es dazu kam und warum die Menschen jetzt ihr Leben riskieren, um sich dagegen zu wehren.
DER STANDARD

Aber auch versöhnliche Töne hat Raisi am Mittwoch angestimmt. "Ich habe schon immer gesagt, dass wir unsere Toleranzschwelle bezüglich Kritik und auch Protesten erhöhen sollten", sagte Raisi am Mittwoch. Der Weg dahin ist laut Raisi offen, man könnte im Land dazu auch Zentren für Diskussionen eröffnen. "Auch die Umsetzung der Gesetze könnte reformiert und revidiert werden. Dies würde dem Land sogar nützen", sagte der Kleriker.

Bericht der Gerichtsmedizin wird erwartet

Er ließ im Live-Interview des Staatssenders Irib jedoch offen, welche Gesetze revidiert werden könnten und ob auch islamische Gesetze wie das Kopftuchverbot dazugehören.

Raisi habe umgehend nach Aminis Tod deren Familie kontaktiert und versprochen, eine akribische Untersuchung durch das Innenministerium anzuordnen. "Mir wurde jetzt gesagt, dass der finale Bericht der Gerichtsmedizin schon in den nächsten Tagen fertig sein wird", sagte der Präsident. Danach würden Regierung und Justiz die notwendigen Schritte einleiten.

Raisi betonte aber erneut, dass Proteste nicht zu Ausschreitungen führen dürften. "Die Gefährdung der nationalen Sicherheit ist für uns die rote Linie, die nicht überschritten werden darf", sagte der 61-Jährige. Die Randalen der vergangenen Tage seien von den Feinden des Irans arrangiert worden, um das Land und das islamische System "zum Stillstand zu bringen". Daher würden die Polizeikräfte konsequent gegen die Randalierer vorgehen und die Justiz die vom Ausland angeheuerten Söldner hart bestrafen, warnte der Präsident.

Die Beamten würden sich den Protesten "mit aller Kraft" entgegenstellen, erklärte die iranische Polizeiführung am Mittwoch. "Heute versuchen die Feinde der Islamischen Republik des Iran und einige Randalierer, die Ordnung, Sicherheit und das Wohlergehen der Nation unter jedem Vorwand zu stören." Die Polizeibeamten würden "sich den Verschwörungen der Konterrevolutionäre und feindlichen Elemente mit aller Kraft entgegenstellen" und "entschieden gegen diejenigen vorgehen, die die öffentliche Ordnung und Sicherheit" im Land störten.

Arbeitslos wegen Internetzensur

Die wegen der landesweiten Proteste von der Regierung verhängte Internetzensur hat eine Million Iraner arbeitslos gemacht. Das gab die nationale Gemeinschaft der Online-Unternehmen am Donnerstag bekannt.

"Von der Internetzensur sind fast alle Online-Geschäfte betroffen, alleine die Sperre der Instagram App hat in den letzten Tagen 400.000 Online-Unternehmen lahmgelegt und über eine Million Menschen wurden arbeitslos", erklärte die Vereinigung nach Angaben des Nachrichtenportals Khabarfoori. Die für die Einschränkungen und Sperren verantwortlichen Behörden seien für die gravierenden Folgen für die Online-Industrie verantwortlich. Außerdem würden die Maßnahmen dazu führen, dass bald noch mehr qualifizierte Arbeitskräfte das Land verließen und auswanderten.

Weitere Festnahmen

Am Mittwoch wurde im Zusammenhang mit den jüngsten Protesten Faezeh Hashemi, die Tochter des einflussreichen iranischen Ex-Präsidenten Ali Akbar Hashemi-Rafsanjani, in Gewahrsam genommen.

Auslöser der nun seit elf Tagen anhaltenden Proteste im Iran ist der Tod der 22 Jahre alten Mahsa Amini. Sie war von der Sittenpolizei wegen eines Verstoßes gegen die strenge islamische Kleiderordnung festgenommen worden und am 16. September unter ungeklärten Umständen gestorben. Die Demonstranten sprechen von Polizeigewalt, die Behörden weisen dies entschieden zurück.

Klage eingereicht

Die Eltern der 22-Jährigen reichten Klage "gegen die Urheber der Festnahme ihrer Tochter" sowie gegen "die Polizisten, die nach ihrer Ankunft bei der Sittenpolizei mit ihr gesprochen haben", ein, sagte Rechtsanwalt Saleh Nikbacht am Mittwoch. Die Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsrichter seien aufgefordert worden, detailliert zu prüfen, was genau vom Moment der Festnahme an bis zur Verlegung Aminis ins Krankenhaus passiert sei, erklärte der Anwalt. Nikbacht verlangte von den Behörden, "alle Videos und Fotos" zur Verfügung zu stellen, die während ihres Aufenthalts auf der Polizeiwache gemacht wurden.

UN-Generalsekretär António Guterres zeigte sich nach Angaben eines Sprechers "zunehmend besorgt" mit Blick auf Berichte über eine steigende Zahl von Todesopfern, "darunter Frauen und Kinder". Der Generalsekretär forderte die Sicherheitskräfte auf, keine unnötige oder unverhältnismäßige Gewalt anzuwenden. Zur Zahl der Toten und Verhafteten gibt es weiter keine genauen Angaben. Der iranische Staatssender spricht von mehr als 40, andere Quellen von mehr als 70 Toten. Tausende sollen landesweit festgenommen worden sein.

Baerbock will EU-Sanktionen

Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock hat nach dem Tod von Mahsa Amini Sanktionen gegen die Verantwortlichen im Iran gefordert. "Im Kreis der EU-Staaten tue ich gerade alles dafür, dass wir Sanktionen auf den Weg bringen können", sagte die Grünen-Politikerin am Donnerstag im Bundestag. Dies sei ungeachtet der Verhandlungen über das internationale Atomabkommen mit dem Iran nötig. Sie forderte personenbezogene Sanktionen gegen diejenigen im Iran, "die ohne Rücksicht Frauen im Namen der Religion zu Tode prügeln, Demonstranten erschießen".

Dies sei keine Einmischung in die Belange eines anderen Landes, wies die Außenministerin Kritik aus Teheran zurück. Der Iran selbst habe sich mit dem Internationalen Pakt für bürgerlichere und politische Rechte zu deren Einhaltung verpflichtet. "Bei allem Respekt vor religiösen und kulturellen Unterschieden: Wenn die Polizei, wie es scheint, eine Frau zu Tode prügelt, weil sie aus Sicht der Sittenwärter ihr Kopftuch nicht richtig trägt, dann hat das nichts, aber auch gar nichts mit Religion oder Kultur zu tun", sagte Baerbock. "Es ist schlicht ein entsetzliches Verbrechen."

Amnesty fordert Untersuchung der Todesfälle

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat die Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Demonstranten im Iran dokumentiert und fordert eine internationale Untersuchung. Die Gewaltanwendung beinhalte den Einsatz von scharfer Munition, Schrotkugeln und anderer Metallgeschoße, massive Schläge sowie geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt gegen Frauen, teilte die Organisation am Donnerstag mit.

Amnesty habe zudem den Tod von dutzenden Frauen, Männern und Kinder dokumentiert, gehe aber von einer noch höheren Zahl von Todesopfern aus. "Die Tötung von Demonstranten muss dringend durch einen internationalen Rechenschaftsmechanismus untersucht werden", forderte die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard. Dafür müsse ein Mechanismus der Vereinten Nationen eingerichtet werden.

Die Menschenrechtsorganisation zitierte unter anderem einen Augenzeugen, der an einem Protest in Teheran am 25. September teilnahm. "Die Sicherheitskräfte zeigten keine Gnade. Sie schossen mit Schrotflinten auf Menschen, bearbeiteten sie mit Schlagstöcken, Schlägen und Tritten", so der Augenzeuge.

Ausweitung in andere Länder

Die Proteste haben sich auch auf andere Länder ausgedehnt. In Afghanistan wurde am Donnerstag eine Solidaritätskundgebung afghanischer Frauen für die Proteste im Iran gewaltsam aufgelöst. Die rund 25 Frauen sollen vor der Botschaft des Iran den bei den dortigen Protesten verwendeten Slogan "Frauen, Leben, Freiheit" gerufen haben. Sie trugen Transparente mit Sätzen wie "Der Iran ist aufgestanden, jetzt sind wir dran" und "Nein zur Diktatur".

Die in Paris lebende persische Ex-Kaiserin Farah Pahlavi rief unterdessen den Westen dazu auf, die Iraner zu unterstützen. "Der Westen kann ihnen helfen, indem er all die Schrecken erzählt, die im Iran unter diesem Regime passieren", sagte sie dem Sender i24News in Paris. "Ich hoffe, dass dieses Regime gestürzt wird." Die 83-Jährige ist die Ehefrau des 1979 gestürzten persischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi.

Gewaltsamer Protest in Oslo

Mehrere Demonstranten haben bei einem Protest in Oslo versucht, in die iranische Botschaft zu gelangen. Viele Menschen hätten sich bei der Demonstration gewalttätig und aggressiv verhalten, mehrere hätten versucht, in die Botschaft einzudringen, teilte die Polizei der norwegischen Hauptstadt am Donnerstag über Twitter mit. Bisher seien zwei Leichtverletzte identifiziert worden. Man habe die Situation unter Kontrolle gebracht. Rund 90 Personen seien in Gewahrsam genommen worden.

Ein Reporter der Zeitung "Verdens Gang" berichtete vor Ort, die Demonstranten hätten Steine geworfen. Die Polizei habe auch Tränengas gegen sie benutzt. In Aufnahmen, die in sozialen Netzwerken kursierten, wurde auch "Lang lebe Kurdistan" gerufen. Bilder zeigten, dass viele Demonstranten kurdische Flaggen trugen.

Iran griff Gebäude kurdischer Gruppen im Irak an

Der Iran geriet auch noch in andere Schlagzeilen: Iranische Streitkräfte haben nämlich im Irak nach kurdischen Angaben Gebäude mehrerer kurdischer Gruppen mit Raketen und Drohnen angegriffen. Dabei seien mindestens neun Menschen getötet und dutzende weitere verletzt worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur INA unter Berufung auf das Gesundheitsministerium der autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Nach iranischen Angaben war es der dritte Angriff in der Region innerhalb von fünf Tagen auf Stützpunkte kurdischer Separatistengruppen, wie die Nachrichtenagentur Tasnim bekanntgab.

Schon am Samstag und Montag hatte die Iranischen Revolutionsgarde kurdische Stützpunkte bombardiert und dies als "legitime Reaktion" auf vorherige Angriffe kurdischer Gruppen auf iranische Militärbasen im Grenzgebiet gerechtfertigt. Irans Innenminister Ahmad Wahidi hatte zuvor einigen kurdischen Gruppen vorgeworfen, an den regierungskritischen Protesten der vergangenen Tage im Iran beteiligt zu sein. (APA, red, 29.9.2022)