Ein alter Bekannter: Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva kandidiert gegen Jair Bolsonaro.

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Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro könnte am Sonntag eine böse Überraschung erleben.

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Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro könnte das gleiche Schicksal drohen wie seinem US-Vorbild Donald Trump. Allen Umfragen zufolge wird der rechtspopulistische Staatschef nach nur einer Wahlperiode abgewählt. Die erste Runde der Wahl findet am Sonntag statt, eine etwaige Stichwahl Ende Oktober. Stattdessen dürfte die Stunde eines alten Bekannten schlagen: Luiz Inácio Lula da Silva. Der ehemalige Gewerkschaftsführer von der linken Arbeitspartei PT war bereits von 2003 bis 2011 Präsident und geht als Favorit ins Rennen. Bei der letzten Wahl 2018 durfte er nicht antreten, da er unter Korruptionsverdacht inhaftiert war. Inzwischen wurden alle vier Prozesse gegen ihn wegen Verfahrensfehlern kassiert.

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Allerdings ist das letzte Wort bei der Wahl noch nicht gesprochen: Besonders die rund 20 Prozent Unentschlossenen könnten das Blatt noch wenden – sofern sie abstimmen. In Brasilien herrscht zwar Wahlpflicht, doch die Wahlbeteiligung erreicht selten mehr als 80 Prozent. Insgesamt sind rund 150 Millionen Brasilianer zur Teilnahme aufgerufen. Die Meinungsforschungsinstitute geben Lula rund 43 Prozent, Bolsonaro liegt bei 36 Prozent. Für den Sieg in der ersten Runde ist die absolute Mehrheit erforderlich.

Unterstützung der Unterschicht

Lula konnte mit seiner geschickten, diplomatischen Art einen Teil der Unternehmerschaft und des bürgerlichen Lagers auf seine Seite ziehen, vor allem durch die Wahl seines Vizekandidaten Geraldo Alckmin, eines Vertreters der wirtschaftsliberalen sozialdemokratischen Partei (PSDB). Außerdem kann er weiterhin auf die Unterstützung der Unterschicht zählen – obwohl Bolsonaro versuchte, ihm durch wahltaktische Sozialhilfeprogramme dort Stimmen abspenstig zu machen. Bolsonaro ist bei Evangelikalen und Landwirten stark, verlor durch seine aggressive Art und seine machistischen Sprüche aber Anhänger in der Mitte und bei den Frauen.

Doch die Stimmung in Brasilien ist aufgeheizt wie schon lange nicht mehr in einem Wahlkampf. 67 Prozent der Bevölkerung fürchten sich vor politischer Gewalt. Radikale Anhänger Bolsonaros sind bis an die Zähne bewaffnet – die Zahl der im Umlauf befindlichen Waffen hat sich in den vergangenen vier Jahren verdreifacht. Und im Wahlkampf wurden bereits zwei Lula-Anhänger von ihnen ermordet. Die Frage, die die Brasilianerinnen und Brasilianer daher in den vergangenen Wochen besonders beschäftigt hat, ist: Wird Bolsonaro gewaltlos den Präsidentenpalast Alvorada räumen, sollte er verlieren, oder wird er wie Trump zum Sturm auf die Institutionen blasen? Und welche Rolle wird das Militär spielen, das von Bolsonaro auf so viele Schlüsselposten in der Regierung gesetzt wurde wie seit der Militärdiktatur nicht mehr?

Stichproben zur Konfliktvermeidung

Bereits im Vorfeld hat Bolsonaro seine Anhängerschaft darauf eingeschworen, dass eine Niederlage nur durch einen Wahlbetrug zustande kommen könne. Brasiliens Wahlsystem, das auf elektronischen Urnen beruht und in der Vergangenheit stets rasche und akkurate Ergebnisse geliefert hatte, gilt als eines der solidesten des Kontinents. Die Wahlbehörde wird diesmal dem Militär sogar gestatten, parallel zur Auszählung Stichproben zu nehmen – wohl mit dem Kalkül, die Streitkräfte dadurch bei einem möglichen Nachwahlkonflikt auf dem demokratischen Pfad zu halten. Einen Staatsstreich schließen Experten wie der ehemalige Verteidigungsminister Raul Jungmann aus. "Dafür gibt es weder ein entsprechendes internationales Umfeld noch Gründe oder Pläne der Streitkräfte", schrieb er in der Zeitschrift "Americas Quarterly".

Der gewachsene Einfluss des Militärs ist allerdings eine der künftigen Herausforderungen für Lula, sollte er gewinnen. Seine Spielräume sind gering, und das Erbe Bolsonaros wird auch im Kongress weiter wirken. Dort rechnen Beobachter mit einer Zunahme des opportunistischen Parteienblocks Centrão, der sich traditionell in Brasilien dem Gewinner anbiedert, um daraus materielle Vorteile zu schlagen. "Im Falle eines Wahlsieges wird die Umsetzung einer progressiven Agenda schwierig werden", schätzt Christoph Heuser, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien.

Wenig Spielraum für Sozialprogramme

Weitere Herausforderungen, die den inzwischen 76-Jährigen erwarten, sind die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. 16 Prozent der Brasilianer leiden einer Studie der NGO Rede Penssan Hunger – ein Rückschritt von 30 Jahren. Doch Lula dürfte in der aktuell schwierigen internationalen Wirtschaftskonjunktur nur wenig Spielraum haben für große Sozialprogramme. Zumal wenn er gleichzeitig wie versprochen den Amazonas wieder stärker schützen will, dessen Ressourcen Bolsonaro zur Plünderung freigegeben hat. Auch das Regieren dürfte in einer derart polarisierten Gesellschaft alles andere als einfach werden. Denn in vielen Regionen, besonders am Amazonas, werden sich bei den Regionalwahlen Bolsonaro-Anhänger durchsetzen und dort der – verfassungsmäßig ohnehin eher schwachen – Zentralregierung Steine in den Weg legen. (Sandra Weiss, 1.10.2022)

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