Das ins Wasser austretende Gas wirft an der Meeresoberfläche Blasen.

Foto: APA / AFP / Swedish Coast Guard

Moskau/Hamburg – Deutsche Sicherheitsbehörden gehen laut einem Bericht des "Spiegel" davon aus, dass bei der Beschädigung der Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee hochwirksame Sprengsätze zum Einsatz kamen. Berechnungen hätten ergeben, dass für die Zerstörung der Röhren Sprengsätze eingesetzt worden sein müssen, deren Wirkung mit jener von 500 Kilo TNT vergleichbar ist, berichtete der "Spiegel" am Donnerstag.

In die Schätzung seien auch die von diversen Messstationen registrierten seismischen Signale einbezogen worden, hieß es in dem Bericht weiter. Mehr Informationen erhofft sich die Bundesregierung laut "Spiegel" von einer genaueren Untersuchung der Pipelines Nord Stream 1 und 2. In Sicherheitskreisen hieß es, dass Taucher oder ein ferngesteuerter Roboter möglicherweise schon am Wochenende die Schäden begutachten könnten.

Länderübergreifende Ermittlungen gestartet

Die Ermittlungen haben aber bereits begonnen – auch ohne dass man bisher an die Lecks herankommt. EU-Kommissarin Ylva Johansson äußerte sich zuversichtlich, dass herausgefunden werden kann, wer hinter dem mutmaßlichen Sabotageakt steckt. Bisher gibt es dazu zwar nur Arbeitshypothesen, doch die Auswertung der Radar- und Satellitendaten von Booten, Schiffen und U-Booten, die sich im fraglichen Zeitraum in dem Gebiet aufhielten, läuft auf Hochtouren.

Im Blick haben die Ermittler aus Dänemark, Schweden und Deutschland beispielsweise die Frage der Reichweite, also wie weit ein Militärtaucher mit einer größeren Last maximal schwimmen könnte. Immerhin geht man davon aus, dass für die beobachteten und von Sensoren registrierten Explosionen insgesamt mehrere Hundert Kilogramm Sprengstoff verwendet wurden. Dass Sprengstoff in einer Art Kommandooperation erst in den letzten Wochen angebracht wurden, ist mitnichten klar. Genauso könnte ein "staatlicher Akteur" Sprengsätze vor schon längerer Zeit angebracht haben – vor Monaten oder gar Jahren.

Viertes Leck entdeckt

An den russischen Pipelines waren Anfang der Woche innerhalb kurzer Zeit in dänischen und schwedischen Gewässern zunächst drei Lecks entdeckt worden. Die genaue Ursache ist unklar. Westliche Sicherheitsexperten gehen aber von Sabotage aus.

VIDEO: Die Behörden in Schweden haben ein viertes Leck an den Nord-Stream-Pipelines auf dem Grund der Ostsee entdeckt. Damit gibt es jetzt zwei Schadstellen in schwedischen Gewässern und zwei in dänischen.
DER STANDARD | AFP/J. Vogler

Das vierte Loch sei ebenfalls diese Woche gefunden worden, zitierte die Zeitung "Svenska Dagbladet" am Donnerstag einen Sprecher der Küstenwache. EU-Innenkommissarin Johansson hatte die mutmaßliche Sabotage am Mittwochabend als Warnruf bezeichnet und einen Belastungstest für die kritische Infrastruktur in Europa angekündigt. "Wir (die EU-Kommission) werden uns jetzt an alle Mitgliedsstaaten wenden, und wir werden einen Belastungstest durchführen in Bezug auf die kritische Infrastruktur", sagte die Schwedin im ZDF-"Heute Journal".

Angesichts der Lecks in den Pipelines sprach sie von einem "Anschlag", der eine "Eskalation" und "eine Bedrohung" sei. "Soweit ich es beurteilen kann, ist es ein sehr intelligenter Anschlag, der nicht verübt worden sein kann von einer normalen Gruppe von Menschen", sagte die Kommissarin. Das Risiko sei groß, dass ein Staat dahinterstehe. "Wir haben natürlich einen Verdacht. Aber es ist zu früh, das abschließend zu beurteilen."

"Akt der Sabotage"

Die Nato geht von einem Sabotageakt an den Nord-Stream-Pipelines aus und zeigt sich im Fall von Angriffen auf kritische Infrastruktur zur Gegenwehr entschlossen. "Alle derzeit vorhandenen Informationen deuten darauf hin, dass dies das Ergebnis eines absichtlichen, rücksichtslosen und unverantwortlichen Akts der Sabotage ist", erklärte das Militärbündnis mit Blick auf die Lecks an den Gaspipelines in der Ostsee.

VIDEO: Aus den Pipelines Nord Stream 1 und 2 von Russland nach Deutschland tritt derzeit an drei Stellen in der Ostsee unkontrolliert Gas aus. Die dänische Marine veröffentlichte Aufnahmen, auf denen eine großflächige Blasenbildung an der Meeresoberfläche zu sehen ist.
DER STANDARD | AFP | DANISH DEFENCE COMMAND

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte: "Jedem vorsätzlichen Angriff auf die kritische Infrastruktur von Verbündeten wird mit einer geschlossenen und entschlossenen Antwort begegnet." Ein möglicher Verantwortlicher wird in dem Statement nicht genannt. Bereits am Vortag hatte auch Stoltenberg – ebenfalls ohne Schuldzuweisung – von Sabotage gesprochen.

Man habe sich dazu verpflichtet, sich auf den "Einsatz von Energie und anderer hybrider Taktiken durch staatliche und nichtstaatliche Akteure" vorzubereiten, sie abzuschrecken und abzuwehren. Die Beschädigung der beiden Pipelines Nord Stream gebe Anlass zu großer Sorge. Die Lecks gefährdeten die Schifffahrt und verursachten erhebliche Umweltschäden. "Wir unterstützen die laufenden Ermittlungen zur Klärung der Schadensursache."

Kreml spricht von "Terrorismus"

Auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow meldete sich am Donnerstag zu Wort. Die Lecks in der Pipeline sähen aus wie "ein terroristischer Akt" und bräuchten Aufklärung in Zusammenarbeit mit mehreren Ländern. Der US-amerikanische Fernsehsender CNN hatte zuvor berichtet, dass europäische Sicherheitsbeamte Schiffe und U-Boote der russischen Marine nahe der betroffenen Stelle gesehen hätten. Peskow sagte dazu, dass es in der Gegend eine viel größere Nato-Präsenz gegeben habe.

Lecks sollen am Montag geschlossen werden

Wie die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf die Betreiberfirma der Pipeline Nord Stream 1 berichtet, sollen die Lecks in der Gasleitung am Montag geschlossen werden.

Ein Sprecher der Nord Stream AG gab an, dass es unmöglich sei, Voraussagen zu treffen, wann die Pipeline wieder in Betrieb gehen könne. Dazu müsste man sich den Schaden erst ansehen. Das Unternehmen sagte zudem, dass es solch eine Schadenserhebung erst durchführen könne, wenn es das Gebiet der Lecks erreicht habe. (APA, Reuters, red, 29.9.2022)