Menschen sind für Russland nur Ressource, sagt Oksana Sabuschko.

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Nach dem Angriff Russlands sprach Oksana Sabuschko unter anderem im EU-Parlament über ihr Land.

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Am 23. Februar dieses Jahres ist Oksana Sabuschko nach Polen geflogen. Sie sollte dort zwei Lesungen bestreiten und dann wieder nach Kiew heimkehren, nur zwei Kleider zum Wechseln hatte sie dabei. Am nächsten Morgen begann Wladimir Putin aber seinen Krieg gegen die Ukraine. Vier Monate verfolgte Sabuschko ihn nur aus dem Nachbarland. Ihre Gedanken hält der heute erscheinende Essay Meine längste Buchtour fest. Sie ist eine Kennerin: Ihr Roman Das Museum der vergessenen Geheimnisse (2009) behandelt den russischen Informationskrieg, der Essay Der lange Abschied von der Angst (2018) den Umgang mit der Angst als Kriegsmittel.

STANDARD: Wie war es, den Krieg in Ihrer Heimat aus der Ferne zu erleben?

Sabuschko: Es war schrecklich. Obwohl man mit Familie und Freunden telefoniert, ist man abgeschnitten. Es gibt Dinge, die man aus erster Hand erfahren muss. Als ich wieder nach Kiew gereist bin, bin ich spät angekommen und war so müde, dass ich den Luftalarm verschlafen habe. Hat man ihn einmal erlebt, überhört man ihn nie mehr.

STANDARD: Wie erleben Sie ihn jetzt?

Sabuschko: Es gibt jetzt gute Nachrichten von der Front, Russland hat Panik, Putin will dem Westen mit Atomwaffen Angst einjagen, weil er keine anderen Ressourcen hat. Es ist sicher in Kiew, dennoch ist die Situation natürlich sehr schwierig. Es gibt hier wie überall Ausgangssperren. Zugleich gibt es wieder kulturelles Leben. Keine Großveranstaltungen, aber Lesungen, Konzerte.

STANDARD: Man kann sich das kaum vorstellen. Anderswo wird gekämpft ...

Sabuschko: Sogar in Charkiw gibt es Lesungen und Konzerte. Wir haben so viele Verluste vom vergangenen Jahrhundert geerbt, die gegenwärtigen Verluste steigern nur unser Bewusstsein, wie viel wiederaufgebaut werden muss. Es gibt viel Solidarität und Aktivität.

STANDARD: Im Essay schauen Sie auf die lange Geschichte russischer Unterdrückung zurück. Waren Sie angesichts dessen überrascht vom Angriff? Glaubten Sie, dass es eine friedliche Lösung mit Russland geben könnte?

Sabuschko: Ich glaube, in den 1990ern, nach dem Ende des Kalten Krieges, gab es eine Chance. Als Kasachstan und Tschetschenien ihre Unabhängigkeit forderten – und der Kreml mit dem ersten Tschetschenienkrieg antwortete. Der Westen hat das ignoriert, sein Fokus lag auf dem Kollaps Jugoslawiens. Er glaubte, Russland könnte sich selbst reformieren. Das war naiv, strategisch und politisch ein Fehler.

STANDARD: Warum?

Sabuschko: Intellektuelle haben gewarnt und gesagt, Totalitarismus ist keine Vergangenheit, von der wir den Kindern in der Schule erzählen. Aber keiner hat auf sie gehört. Die Geschichte hat sich dramatisch wiederholt. Wenn man Dokumente liest, wie Hitler in Europa wahrgenommen und von Politikern behandelt wurde, mein Gott, das sind dieselben Worte wie über Putin heute! Die Ukraine als Putins "Hinterhof", genauso wurde in der Presse über Hitler geschrieben. Es gibt viele Beispiele. Als Autorin bin ich besonders sensibel dafür, wie Dinge in der Sprache ausgetragen werden, bevor sie zu Waffen und Raketen werden.

STANDARD: Der Westen hat versagt?

Sabuschko: Die Ukraine wurde vom Westen nie als wichtig wahrgenommen. Meine Karriere im Ausland fällt mit dem politischen Auftauchen und Verschwinden der Ukraine in den internationalen Nachrichten zusammen. Das sagt einem etwas darüber, wie unwichtig ein Land ist. Und es erklärt Putins Arroganz. Wir wurden als Zone russischer Staatsinteressen gesehen: Soll Russland sich doch um uns kümmern. In Belarus hatte der Kreml ja auch Erfolg mit dem, was er in der Ukraine nie geschafft hat.

STANDARD: Sie schreiben in "Die längste Buchtour", dass Russland seiner eigenen Bevölkerung nicht traut. Würde sie nicht von Polizei und Behörden im Zaum gehalten, würde sie nur zerstören und stehlen. Woher kommt dieses Bild?

Sabuschko: Die Organisation des russischen Staates ist sehr hierarchisch. Wie in einer Monarchie oder eher wie in der Armee oder im Gefängnis. Es gibt da auch eine Nähe zu Hierarchien im Tierreich. Das erklärt all diese Grausamkeiten, die von der russischen Armee in diesem Krieg verübt werden. Die gab es genauso schon vor 80, vor 180, vor 300 Jahren. Das meine ich, wenn ich sage, dieser Staat kann nicht modernisiert werden. Seine ganze Struktur dreht sich um Gewalt. So wurden und werden noch heute all diese Völker zusammengehalten. Russland ist keine Nation, sondern ein Gefängnis.

STANDARD: Allerdings ein riesiges ...

Sabuschko: Ja, das erklärt auch die Einstellung gegenüber jeder Art von Ressourcen: Sie sind unerschöpflich. Ob es um Öl, Wälder oder hunderttausende Männer geht, die mobilisiert und ohne Vorbereitung ins Verderben geschickt werden.

STANDARD: Wie kann es mit Russland angesichts dessen weitergehen?

Sabuschko: Ich bin mir sicher, der Zerfallsprozess des Landes hat schon begonnen. Ich bin begeistert vom Ausmaß des Protests der ethnischen Minderheiten in Dagestan und Jakutien, wo Frauen protestieren, um ihre Männer zu beschützen. Wir sind im Jahrhundert der Frauen – das zeigt sich auch gerade am Aufstand im Iran. Es sind immer die Frauen, die am lautesten schreien. Wenn ich mich erinnere, wie die Sowjetunion zu kollabieren begann, waren die ersten Proteststimmen gegen das Regime weibliche. Sie haben um ihre Kinder geschrien. Hohe Töne, die ich nie vergessen werde. Das ist der Geburtsschrei einer neuen Welt. Es ist Zeit, von Russland als einem sterbenden Reich zu denken. Man sollte sich jetzt Gedanken darüber machen, was man schon vor 30 Jahren hätte überlegen müssen: wie der Abstieg mit dem geringsten Schaden für die Menschen dort und für den Rest der Welt vor sich gehen kann, also friedlich.

STANDARD: Wie kann das klappen?

Sabuschko: Das kann ich mir nicht wirklich vorstellen. Der Hass und die Wut in den vergangenen 20 Jahren waren enorm. Wenn all diese Menschen, die nichts anderes als Putin und diese Struktur kennen, jetzt im Kampf geschlagen werden und weinend zurückgerannt kommen, bringen sie alle diese Aggression mit. Die wird nicht verschwinden. Es geht jetzt vor sich, was im 20. Jahrhundert nicht vollendet worden ist. (Michael Wurmitzer, 30.9.2022)