Protest gegen das Regime im Iran in New York. Weltweit schneiden sich Frauen die Haare ab, das Haarbüschel in der Hand der Frauen soll eine Botschaft an die Herrschenden sein.

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Zaynab A. hat dunkelbraunes Haar. Es ist so lang, dass man auf dem kleinen Videoausschnitt nur erahnen kann, wo es zirka endet. Die junge Iranerin richtet sich mit ernstem Blick an ihre Instagram-Follower. Sie sagt nichts, sondern nimmt eine rote Bastelschere und beginnt zu schneiden. Langsam fallen auch die letzten Strähnen. Im Text unter dem Video schreibt sie: "Für Mahsa Amini".

Seit dem Tod der 22-jährigen Kurdin am 16. September in Polizeigewahrsam gehen im gesamten Iran Demonstrantinnen und Demonstranten auf die Straße, um für ihre Rechte zu kämpfen. Die Proteste werden teilweise mit Gewalt niedergerungen, Widerstand wird schwieriger – auch in den sozialen Medien. Frauen, die unter Applaus und öffentlich ihre Hijabs verbrennen oder sich die Haare abschneiden: Die strengkonservative Regierung weiß um die Macht solcher Bilder und schränkt den Internetzugang immer weiter ein.

Meine letzte Nachricht an Zaynab A. bleibt ungelesen. Sie hätte mir eigentlich ein Interview zu ihrer Protestaktion geben sollen, warnte aber auch vor der Gefahr, in der Öffentlichkeit zu sprechen. "Sie könnten jederzeit kommen und mich verhaften", schrieb Zaynab A. Ihr Video ging viral, tausende Menschen haben es gesehen. Es ist ihr nicht leicht gefallen, "einfach" die Haare abzuschneiden, aber es war notwendig, meinte sie in einer Chatnachricht.

"Hier, nehmt meine Haare!"

Auch die 23-jährige Nilou* hat Angst. Sie lebt mit ihren Eltern in Deutschland, viele ihrer Verwandten kommen aus dem Iran. Sie fürchtet ein Einreiseverbot, deshalb wurde ihr Name von der Redaktion geändert. "Es gibt eine schwarze Liste. Wenn ich dort als 'Aktivistin' oder 'Feministin' aufscheine, dann bekomme ich große Probleme."

Für Nilou ist das Abschneiden ihrer Haare ein feministischer Aufschrei, der nichts mit ihrer Religion zu tun hat, sondern sich gegen ein Regime wendet, das Frauen wie Menschen zweiter Klasse behandelt. "Wir machen das aus Verzweiflung", sagt sie. Das Haarbüschel in ihrer Hand sei eine Botschaft an die Herrschenden: "Hier, nehmt meine Haare! Ihr könnt sie gerne haben, nur lasst mir meine Freiheit."

Für Nilou ist das Schneiden ihrer Haare ein Zeichen der Solidarität.
Foto: Privat

Unter dem Foto, das sie mit ihrer neuen Frisur zeigt, werden die Hassnachrichten mehr. Täglich ist sie viele Stunden damit beschäftigt, Postings wie "Du bist Schmutz" zu löschen. "Mit manchen könnte ich wohl zur Polizei gehen", meint Nilou. Es ärgert sie, dass oft kommentiert wird, dass sie den Islam schlecht mache, obwohl sie mit der Aktion genau das Gegenteil bezeugen wollte. Es sei die Regierung, "die den Islam in den Dreck zieht, nicht ich".

Akt der Selbstbestimmung

Haare abzuschneiden ist ein Akt der Selbstbestimmung. Die Historikerin Ute Frevert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung interpretiert die Geste als "Protesthaltung gegen eine bestimmte Vorstellung von Weiblichkeit".

Schon in der Vormoderne galten Frauen mit langem, gelocktem Haar als "verführerisch", die weibliche Haarpracht wurde mit Schönheit gleichgesetzt. Frevert zieht hier Parallelen zum Iran: "Die Haare von Frauen werden von den Machthabern als Verführungsmoment ausgelegt, vor dem Männer geschützt werden müssen." Die Frau als Verführerin des Mannes – das darf nur im Privaten, aber niemals in der Öffentlichkeit passieren. Deshalb müssen sich Frauen strengen Kleidungsvorschriften unterwerfen.

Hinter dem Account "The Hair Historian" steckt die Historikerin Rachael Gibson. Sie schaut sich die Bedeutung von Frisuren im Laufe der Geschichte an.

Mit dem Haarschnitt wird die Kontrolle über den eigenen Körper zurückgewonnen. Aber nicht nur das, meint Frevert: "Die Frauen drehen den Spieß um." Dieses Mal sind es nicht die Frauen, die bestraft werden, sondern die Männer, denen sie die Deutungshoheit über ihre Weiblichkeit entziehen. "Das ist eine starke feministische Handlung."

Stiller Protest

Begonnen haben die Proteste in Seqiz, Aminis Heimatstadt in der Provinz Kurdistan im Westen des Irans. "In unserem Kulturkreis haben Haare eine ganz besondere Bedeutung", erklärt Düzen Tekkal. Die Journalistin und Politologin engagiert sich mit ihrer Organisation Háwar.help seit Jahren für Frauenrechte.

"Das Abschneiden der Haare ist auch ein tiefer Ausdruck von Trauer", sagt sie. Wenn ein enges Familienmitglied stirbt, ist es üblich, dass Kurdinnen ihre Zöpfe abschneiden und in das Grab des Verstorbenen legen. "Dass das jetzt vor den Augen der Weltbevölkerung passiert, ist eine Form des stillen, aber wahnsinnig wirksamen Protests." Die Symbolik sei nicht minder beeindruckend als brennende Einsatzwagen und Polizisten, die von wütenden Menschenmengen niedergerungen werden.

"Dieses Mal ist alles anders"

"Es ist nicht das erste Mal, dass im Iran Menschenrechte verletzt worden sind und sich die Bevölkerung dagegen wehrt, aber dieses Mal ist alles anders", analysiert Tekkal. Der Fall von Mahsa Amini, deren kurdischer Name Jina ist, scheint die Menschen im Vielvölkerstaat zu einen. Tekkal beobachtet, dass Frauen und Männer aller Gehaltsklassen und Religionen langsam anfangen, sich gegen das Regime aufzulehnen.

Amini wurde bei einem Besuch in Teheran wegen "unangemessener Kleidung" von der Sittenpolizei festgenommen, angeblich habe sie ihr Kopftuch zu locker getragen. Wenige Tage später starb sie in einem Krankenhaus. Die Polizei weist jede Schuld von sich, Augenzeugenberichte und ein veröffentlichtes Video lassen aber einen gewaltsamen Tod vermuten. "Die Menschen wissen, dass auch ihnen jederzeit dasselbe zustoßen könnte", meint Tekkal. "Und das wollen sie nicht länger akzeptieren."

Die Online-Aktivistin Nilou hofft indes, bald wieder in den Iran reisen zu können, in einen "anderen Iran", wie sie sagt. "Wenn es mit der Revolution jetzt nicht klappt, dann nächstes oder übernächstes Jahr. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist die Zeit dieser Regierung vorbei." (Anna Wielander, 30.9.2022)