Am Sonntag sind die Bulgaren und die Bulgarinnen aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Es ist der vierte Urnengang innerhalb von nur vier Jahren. Diesmal geht es vor allem um die geopolitische Ausrichtung des Staates mit sieben Millionen Einwohnern, aber auch darum, ob die Korruption endlich bekämpft wird und Bulgarien endlich eine unabhängige Justiz bekommt.

Der 42-jährige Harvard-Ökonom Kiril Petkov, der mit seiner Partei "Wir setzen den Wandel fort" vergangenes Jahr an die Macht kam und nach nur einem halben Jahr vom Koalitionspartner gestürzt wurde, hofft auf eine zweite Chance.

Expremier Kiril Petkov sucht für den Fall der Fälle Koalitionspartner ohne Kontakt zu Korruption.
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STANDARD: Den Umfragen zufolge liegt die Partei GERB vorne. Es wird schwierig werden, eine Regierung zu bilden. Auch für Sie gibt es nur wenige potenziellen Regierungspartner. Schließen Sie aus, mit der GERB eine Koalition zu schmieden?

Petkov: Leider haben uns die Meinungsforscher bei der letzten Wahl ein ähnliches Ergebnis geliefert. Die tatsächlichen Ergebnisse waren jedoch völlig anders. Ich möchte jedenfalls eine Koalition mit der Partei Demokratisches Bulgarien und den Sozialisten formen, die schon das letzte Mal dabei waren – aber ohne den vierten Partner, die Partei "Es gibt so ein Volk" von Slavi Trifunov. Denn diese Partei war Teil derselben korrupten Truppe, gegen die wir ankämpfen. Es war das trojanische Pferd in unserer Koalition.

STANDARD: Wenn sich das aber nicht ausgeht, würden Sie dann mit der rechtsextremen Partei "Wiedergeburt" oder der als korrupt verschrienen "Partei für Rechte und Freiheiten" koalieren?

Petkov: Unglücklicherweise sind alle diese Parteien keine akzeptablen Partner für die Sache, um die es uns geht. Wir denken, dass die Führung unter dem ehemaligen Premier Bojko Borrisov von GERB es sich nicht leisten kann, das Justizsystem in Bulgarien zu reformieren. Es geht darum, ob wir jenes Anliegen mit diesen Parteien bearbeiten können, das wichtig ist, nämlich die Rechtsstaatlichkeit. Dasselbe gilt für die Partei für Rechte und Freiheiten. Der Oligarch und langjährige Abgeordnete der Partei, Delijan Peevski, wurde im Mai 2021 durch den Magnitsky-Act unter US-Sanktionen gestellt. Es ist unmöglich mit so einem Partner gegen Korruption anzukämpfen. Und nun zu den Rechtsextremen, von denen ich nicht weiß, ob sie nicht Linksextreme sind – jedenfalls sind sie extrem. Die Partei "Wiedergeburt" setzt sich dafür ein, dass Bulgarien aus der Nato austritt. Das ist ein derart primitiver Populismus, der schon an Verrücktheit grenzt. Wenn man unter einer derartigen Bedrohung von Russland auch nur daran denkt, die Nato zu verlassen, dann ist das wahnsinnig. Mit denen kann ich auch nicht koalieren. Und der Nächste, mit dem ich nicht zusammenarbeiten kann, ist der Verteidigungsminister Stefan Janev, den ich entlassen habe, weil er behauptet hat, dass Russland bloß eine Operation in der Ukraine durchführe. Janev hat jüngst die Partei "Bulgarischer Aufstieg" gegründet. Die Bulgaren und Bulgarinnen sind also am Sonntag aufgerufen, eine weise Entscheidung zu treffen.

STANDARD: Und welche Folgen soll diese weise Entscheidung haben?

Petkov: Wir haben eine Chance, die 30 Jahre andauernde Übergangszeit zu beenden, die voll von Korruption und einer veralteten Art waren, Politik zu machen, etwa durch Verbindungen mit dem ehemals kommunistischen Geheimdiensten. Wir haben so viel Potenzial: eine sehr fruchtbare Erde, Tourismus, geringe Steuern für industrielles Wachstum und großartige Mathematiker und IT-Spezialisten. Aber wir werden aufgehalten, weil es Korruption und keine Rechtsstaatlichkeit gibt.

STANDARD: Welche Bedingungen stellen Sie, wenn es um eine Regierungsbeteiligung geht?

Petkov: Wir brauchen eine Anti-Korruptions-Kommission mit Ermittlungsbefugnissen. Und wir brauchen Reformen in allen Sicherheitsdiensten. Wenn diese beiden Bedingungen nicht erfüllt werden, machen wir nicht mit.

STANDARD: Was ist das Problem in den Sicherheitsdiensten?

Petkov: Die wurden seit des Ende des Kommunismus nie reformiert. Der Präsident kann zudem zu der Zeit – während der technischen Übergangsregierungen – die gesamte Leitung dieser Dienste austauschen, weil er auch den Premier kontrolliert. Und dagegen kann eine gewählte Regierung nichts machen. Deshalb müssen wir das Gesetz ändern. Die Leute in den Sicherheitsdiensten müssen die Anti-Korruptions-Standards erfüllen. Die Sicherheitsdienste müssen in Zukunft vom Parlament kontrolliert werden. In den letzten zwölf Jahren wurde diese Leute von der GERB ernannt, und die haben einen Schutzschirm über korrupte Netzwerke und Praktiken ausgebreitet. Mit diesen Leuten kann es keinen Wandel geben.

STANDARD: Geht es Ihnen dabei auch darum, den Einfluss des Kremls auf die Sicherheitsdienste und die Sicherheitssituation in Bulgarien zu beschränken?

Petkov: Korruptionsskandale in Bulgarien sind mit dem russischen Einfluss verbunden, etwa wenn es um die Pipeline Turk Stream geht, durch die seit 2020 Gas durch Bulgarien aus Russland gelangt. Die Regierung vor unserer Regierung hat für die Ukraine eines ihrer größten geopolitischen Problem kreiert, indem wir die Turk Stream zugelassen haben. Die bulgarischen Bürger haben zudem Millionen von Euro bezahlt, um diese Pipeline zu bauen, obwohl sie selbst davon gar nichts haben. Das war nur dazu da, dass der Einfluss eines fremden Landes, nämlich Russlands, gesteigert wird. Das ist nicht auszuhalten! Manche fragen mich, ich eine "euroatlantische Koalition mit GERB" bilden würde, aber ich habe kein politisches Vertrauen in jemanden, der diese Turk Stream unterschrieben hat. Borrisov hat der Ukraine mit dieser Pipeline mehr Schaden zugefügt, als es irgendein anderes Projekt in der Geschichte getan hat. Er hat den bulgarischen Bürgern auch nicht erklärt, weshalb er das gemacht hat. Ich traue seinen angeblichen euroatlantischen Ansichten nicht.

STANDARD: Sie haben versucht, während ihrer Regierungszeit die Lieferung von Gas aus Aserbaidschan abzusichern und das Verbindungsstück zu Gaslieferungen nach Griechenland zu bauen, um vom russischen Gas unabhängig zu werden. Aber die Übergangsregierung und Präsident Rumen Radev scheinen einen anderen Weg zu gehen. Was würde es für Bulgarien bedeuten, wenn der Staat nach den Wahlen noch mehr unter russischen Einfluss kommt?

Petkov: Ich hoffe, dass wir eine sehr ähnliche Regierung bilden wie das letzte Mal und wieder ein verlässlicher europäischer Partner sein können. Eine Koalition der GERB von Borrisov, der Partei für Rechte und Freiheiten und der Partei Wiedergeburt wäre hingegen prorussisch, extrem rechts und korrupt. Das wäre nahe einer Höllen-Regierung.

STANDARD: Einer der größten Skandale, die ihre Regierung aufgedeckt und beendet hat, waren die privatisierten Grenzkontrollen am größten Grenzübergang zur Türkei, Kapitan Andreevo, wo Lebensmittel in die EU gelassen wurden, die vernichtet werden sollen hätten und kriminelle Strukturen Millionen abzockten. Was sind Ihre Pläne bezüglich Kapitan Andreevo?

Petkov: Wir sind in der Lage, die Privatinteressen, die es dort an der Grenze gab, und die Korruption abzustellen. Wir hatten auch diesbezüglich Gespräche mit dem deutschen Finanzminister. Er ist bereit, Beamte nach Andreevo zu schicken.

STANDARD: Der Fall Kapitan Andreevo hat auch gezeigt, dass Vertreter in der Justiz versucht haben, die alten Strukturen an der Grenze wieder herzustellen. Eines der größten Probleme in der bulgarischen Justiz ist die Generalstaatsanwaltschaft. Was wollen Sie dagegen machen?

Petkov: Wenn wir die Anti-Korruptions-Kommission etabliert haben und mit der Europäischen Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten, können wir für Gerechtigkeit sorgen – auch wenn es um den Missbrauch von nationalen Fonds und EU-Fonds geht. Die Justizreform und das Problem der Unangreifbarkeit des Generalstaatsanwalts erfordern hingegen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Das ist derzeit unmöglich, deshalb gehen wir diesen Weg über die Anti-Korruptions-Kommission. Ich setze mich aber auch dafür ein, dass das Mandat der EU-Staatsanwaltschaft erweitert wird und sie sich auch mit grenzüberschreitender Geldwäsche befassen kann. Das wäre für die gesamte EU gut.

STANDARD: Die Gazprom hat Bulgarien im April den Hahn abgedreht. Was muss nun getan werden, um das zu kompensieren, aber gleichzeitig sicherzustellen, dass die hohen Energie-Preise nicht die Ärmsten treffen?

Petkov: Wir waren vor dem Krieg das EU-Land mit der höchsten Abhängigkeit von russischem Gas, jetzt bekommen wir gar keines mehr. Das ist über Nacht im April passiert. Ich hoffe, dass wir den Zugang zu dem LNG-Terminal in Griechenland im nächsten Monat sicherstellen, sodass es zu keiner Gasknappheit im Winter kommt. Wir haben zudem einen engmaschigen Plan für die Energieversorgung: Wärme in den bulgarischen Haushalten ist die Priorität Nummer eins. Unser Vorteil ist, dass wir eine sehr gute Elektrizitätsversorgung haben. Wir exportieren ja auch Strom. Wir müssen aber die Energieversorgung diversifizieren, etwa durch den neuen Atomreaktor. Gleichzeitig müssen die Einnahmen, die der Staat haben wird, wenn wir die Korruption bekämpfen, in die Sozialpolitik fließen. Zuletzt konnten wir sicherstellen, dass Millionen von Euro nicht für Bauaufträge ausgegeben wurden, die nur der Korruption dienen. Stattdessen soll das Geld in die Erhöhung der Pensionen fließen, eine Million Rentner hat unsere Regierung durch Rentenerhöhung aus der Armutsgrenze gebracht. Die Leute müssen spüren, dass es ihnen etwas bringt, wenn wir Rechtsstaatlichkeit einführen.

STANDARD: Was bedeuten die bulgarischen Wahlen für Nordmazedonien? Bulgarien hat ein Veto gegen die EU-Beitrittsverhandlungen eingelegt – und es ist unklar, ob die Verhandlungen beginnen können.

Petkov: Wir haben das Problem bewältigt. Die müssen nun ihre Versprechungen erfüllen, etwa die Verfassung ändern und die Bulgaren als Minderheit anerkennen. Sie müssen das nur umsetzen.

STANDARD: Aber die Frage ist, ob sie das jemals können. Denn es braucht eine Zweidrittelmehrheit. Die gibt es nicht dafür.

Petkov: Es gibt da keine zeitliche Beschränkung, sobald sie dazu in der Lage sind, können sie mit den Verhandlungen beginnen. (Adelheid Wölfl, 2.10.2022)