In seinem Gastbeitrag schreibt Christian Zolles in Bezug auf die wissenschaftliche Zeitschrift "Wiener Digitale Revue" über künstlerische Aufbrüche vergangener Subkulturen in Österreich.

"Don't Let the 'Professionals' Get You Down": Mit diesem aussagekräftigen Slogan des Künstlers Dick Higgins ist die subkulturelle Stoßkraft der in den 1960ern begründeten Fluxus-Bewegung recht gut auf den Punkt gebracht. Sie hatte gar nicht den Anspruch, Kunst im offiziellen Sinn zu sein, schon gar nicht, deutbar zu werden. Ihr ging es im Grunde darum, die Schranken zur Hochkultur zu durchbrechen, Kunst ins Leben rückzuholen und gegen die bürgerlichen Komplexe in Stellung zu bringen. "Fluxus is not: – a moment in history, or – an art movement. Fluxus is: – a way of doing things, – a tradition, and – a way of life and death."

Links: Dick Higgins: Don't Let the 'Professionals' Get You Down. Freibord 60 (1987).
Rechts: Wolf Vostell: Der Beton-Tango. Freibord 55/56 (1986).

Beitrag zu den Objekten von Fermin Suter in der "Wiener Digitalen Revue" 4.
Foto: Archiv der Zeitgenossen

Freibord

Der Aufruf zur avantgardistischen Lebenskunstform sollte global widerhallen und auch Wien erreichen. "Freibord", herausgegeben von Gerhard Jaschke, hieß fortan das neue Medium des Fluxus, des freien Flusses, und der Kulturkritik "von unten". In der Zeitschrift übertraten literarische Experimente die Grenzen zur bildnerischen Kunst, zur Musik und zum Aktionismus. Die Hoffnung dahinter war, die Öffentlichkeit für Kunstproduktion radikal zu erweitern und den Künstlerinnen und Künstlern wie dem Publikum neue unmittelbare Begegnungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Im "Freibord" finden sich die schönsten Zeugnisse der dabei angewandten vielfältigen Verfahren. Ein Crossover aus Schrift, Bild, Klang-, Objektkunst und Performance-Anleitungen zeigen die Freude am ungezügelten Denken und Ausdruck, so abwegig und absurd die Ergebnisse auch ausfallen mochten, die häufig auch einfach im Planungs- und Prozessstadium belassen wurden. Warum nicht, wie Joe Jones, visuelle Poesie mit der musikalischen Notation verknüpfen oder ein Konzert für Hunde entwerfen?

Links: Joe Jones: Music Project for Modern Quartet. Freibord 23 (1981).
Rechts: Joe Jones: concert for dogs. Freibord 23 (1981).
Foto: Archiv der Zeitgenossen

So konnte auch, wie Michael Horvaths und Gerhard Jaschkes "Am Drücker" zeigt, eine einfache Spielzeugschreckschusspistole mit Munition und Zielscheibe – in einer Auflage von zehn Exemplaren, im Deckel nummeriert und handsigniert – zum auratischen Kunstwerk werden. Diese Aufforderung zum Spiel steht auch ganz in der fluxistischen Reflexionstradition von Gebrauchswerten und einer permanent "am Drücker" befindlichen Autorschaft.

Michael Horvath und Gerhard Jaschke: "Am Drücker".
Foto: Landesssammlungen NÖ, 1992

Wiener Digitale Revue

Beispiele wie jenes von "Freibord" finden sich jetzt in der neuen Ausgabe der literatur- und kulturwissenschaftlichen Online-Zeitschrift "Wiener Digitale Revue" zusammengetragen. Die Zeitschrift hat zum Ziel, Beiträge aus der Forschung einem weiteren Kreis an Interessierten zugänglich zu machen. Vor allem setzt sie dabei auch auf die Präsentation von Archivmaterialien und gibt Werkstattberichte aktuell geförderter digitaler Projekte.

Die neue Ausgabe geht nun der "Pulp-Fiction" in Wien nach und zeigt spannende Entwicklungen in der städtischen Trivial- und Popkultur auf. "Pulp" bezieht sich dabei zunächst auf Papier von bescheidener Qualität, auf dem reißerische und populäre Inhalte verbreitet wurden. So fehlen auch nicht Beiträge zu Groschenheften, Comics oder Erotika, deren Veröffentlichung in Österreich lange Zeit als "Schmutz und Schund" und schädlich für die Gesellschaft unterdrückt wurde.

Es scheiden sich bei den "trivialen" Inhalten aber nicht nur die moralischen, sondern auch die geopolitischen Geister. Wer über die frühe kulturpolitische Polarisierung im Kalten Krieg mehr erfahren will, die gegenwärtig schlagartig wieder in unser Bewusstsein gerückt ist, findet etwa in den Romanheftreihen nach 1945 eindrucksvolle bildliche Zeugnisse.

Links: 1. Band der "Tom Sharg"-Reihe von Ernst A. Dolak (1948).
Rechts: 4. Band der "Eulen"-/"Atom-Roman"-Reihe von Karl Wiesinger (1951).

Beitrag zu den Objekten von Hans Peter Kögler und Wolfgang Rath in der "Wiener Digitalen Revue" 4.
Foto: Hans Peter Kögler

Kunstfigur Falco

Beim Thema "Pulp" springt auch der intermediale Charakter vieler Werke ins Auge, das Collagenhafte und Aktionistische im Zusammenspiel von Schrift, Sprache, Bild, Ton und Handlung. Die Akteure und Akteurinnen – die aus dem popformatigen Imaginären hervorgetretenen "Heldinnen" und "Helden" – waren dementsprechend "pulpige" Kunstfiguren: Das zeigt beispielhaft die Karriere des Hermes Phettberg, der in Performances, Büchern, Filmen und Comics zu einem intermedialen Ereignis wurde. Auch der Ostbahn-Kurti hat eine vergleichbare mediale Vergangenheit.

Die populärste dieser Kunstfiguren ist aber sicher Falco, dessen Aufstieg aus der Wiener Untergrundszene der späten 1970er-Jahre in der "Wiener Digitalen Revue" nachgezeichnet wird. Zündend für die internationale Karriere Falcos war eine ganze Gemengelage an Einflüssen: David Bowie, Punk, New Wave, früher deutscher Rap, die Neue Deutsche Welle oder auch politisches Kabarett und Rocktheater in der Art Frank Zappas. In Österreich führte ihn das anfangs zu Stationen wie der Hallucination Company oder Drahdiwaberl.

Links: Stefan Weber und Falco auf der Cover-Rückseite von Drahdiwaberls "Psychoterror" (1981).
Rechts: Cover von Drahdiwaberls "Jeannys Rache" (1986).
Beitrag zu den Objekten von Peter Ernst in der "Wiener Digitalen Revue" 4.
Foto: Peter Ernst

Die Blutorgel

Wenn man sich nach den Impulsen dieser späteren Bewegungen fragt, so stößt man durchgehend auf jene künstlerischen Strömungen der Nachkriegsavantgarden, die längst die Weihen der Hochkultur empfangen haben. Der Wiener Aktionismus kann als eine der Initialzündungen verstanden werden, die den starren postfaschistischen Diskursraum in Österreich gesprengt und den Raum für die Folgegenerationen geöffnet haben.

Natürlich hatte der Aktionismus auch sein geeignetes Medium: die Zeitschrift "Die Blutorgel", die auf das gleichnamige von Hermann Nitsch, Adolf Frohner und Otto Muehl unterzeichnete Manifest zurückging. In vier Ausgaben zog der Eigentümer, Herausgeber und Verleger Josef Dvorak – Theoretiker und Analytiker der Aktionisten und später anerkannter Satanologe – mit Collagen, Zeichnungen, Lautgedichten, Pamphlets, Essays, Rezensionen und kirchenkritischen Abbildungen gegen die österreichischen Sitten und Unsitten ins Feld.

Pulp at it's best, könnte man sagen, was zu der (womöglich gar nicht so unreligiösen) Erkenntnis führt: Destruktion ermöglicht künstlerische Produktion.

Ausgaben von "Die Blutorgel" auf einen Blick (je 43 x 30 cm).
Beitrag zu den Objekten von Kira Kaufmann u. a. in der "Wiener Digitalen Revue" 4.
Foto: Kira Kaufmann

Aus dem Archiv lernen

Über all die vorgestellten Werke soll begreifbar werden, inwiefern das Mistrauen gegenüber den offiziellen Stimmen in Österreich seine eigene Untergrund-Geschichte hat. Der angestrebte Aufbruch fand im Bereich des Assoziativen, Bildhaften und Theatralen statt, dem die Bewegungen menschlichen Bewusstseins und Handelns unmittelbar zu entsprechen schienen, während das Schriftsprachliche und Logische als im Pakt mit dem Elitären und Systemkonformen stehend vermutet wurde. Österreich war schließlich zu keiner Zeit Vorzeigeland der Aufklärung.

Das Schicksal von künstlerischen Aufbrüchen ist es, erst im Archiv zu Bewusstsein zu kommen. Aus ihm heraus kann man allerdings viel lernen: dass der Wiener Aktionismus aller Progressivität zum Trotz alles andere als eine Emanzipationsbewegung für Frauen war; wie eng in Österreich die Nachbarschaft zwischen Klerikalem und Mystisch-Orgiastischem liegt; von den revolutionären Ambitionen, die sich im Moment des Überspringens der medialen Konventionen auftun können; von der Neigung kapitalistischer Gesellschaften, von Aufbruchsstimmungen in den Kitsch zurückzufallen; und vielleicht auch, wie es dazu kommen konnte, dass sich Medienkritik jetzt, Jahrzehnte später, politisch um 180 Grad gedreht in den sozialen Netzwerken und auf den Straßen mit Methoden der einstigen Gegenkultur artikulieren kann.

Der Analytiker des Wiener Aktionismus Josef Dvorak zeigt in der "Blutorgel" dem Kolumnisten Reinald Hübl die lange Nase.
Foto: Kira Kaufmann

Was eben aus dem Archiv zu lernen ist: Es gibt keine Alternative Facts, es gibt nur Pulp-Fiction. (Christian Zolles, 5.10.2022)