Die Kinder- und Jugendanwaltschaft arbeitet gemeinsam mit der Wiener Bildungsdirektion an einem Kommissionsbericht zum Missbrauchs-Komplex. Eingerichtet wurde das Gremium bereits im Jahr 2020.

Foto: Regine Hendrich

Es dürfte sich um den größten Missbrauchskomplex handeln, den es in Wien in den vergangenen Jahren gegeben hat. Daran lässt auch eine Einschätzung des Wiener Kinder- und Jugendanwalts Ercan Nik Nafs keine Zweifel. "In diesem Fall kann man gar nichts mehr ausschließen", sagte er am Donnerstag dem STANDARD. Nik Nafs bestätigte, dass die gesamten Dimensionen des Falls noch gar nicht abzuschätzen sind. "Es melden sich täglich bei uns Personen", sagte er – und spricht in diesem Zusammenhang "von einer Vielzahl von Betroffenen und Zeugen, die sich in den vergangenen Tagen gemeldet haben."

Die Kinder- und Jugendanwaltschaft arbeitet gemeinsam mit der Wiener Bildungsdirektion an einem Kommissionsbericht zu der Causa. Eingerichtet wurde das Gremium bereits im Jahr 2020. Die breite Öffentlichkeit wurde von der Existenz dieser Kommission unter Federführung der Bildungsdirektion unter Heinrich Himmer aber nicht informiert.

Erst vor wenigen Tagen entschloss sich die Bildungsdirektion, auch mehr als 1.000 Schüler sowie Ex-Pädagogen der Mittelschule im zweiten Bezirk seit dem Jahr 2004 anzuschreiben und sie davon zu informieren, dass der "Vorwurf von Übergriffen im Raum" stehe. Das Jahr 2004 wurde deshalb gewählt, weil die ersten Übergriffe des Lehrers in diesem Jahr stattgefunden haben sollen. Lehrkraft war der Betroffene aber bereits seit dem Jahr 1996. Am Donnerstagabend gab eine Sprecherin der Bildungsdirektion dem STANDARD bekannt, dass nunmehr auch alle Schülerinnen und Schüler der Schule sowie Ex-Pädagogen seit dem Jahr 1996 angeschrieben werden.

Mögliche Übergriffe auf Schulsportwoche und im Turnsaal

Zuletzt gab es auch Vorwürfe, wonach sich mögliche Übergriffe im schulischen Rahmen – etwa bei einer Schulsportwoche 2004 oder einer Lesenacht samt Übernachtung im Turnsaal im Jahr 2009 – zugetragen haben. DER STANDARD berichtete. Bei einem Skikurs soll der Lehrer auch Fotos mit Schülern rund um einen Saunabesuch gemacht haben, die dann die Runde machten. Davon sollen auch Eltern erfahren haben.

Zu den Fotos hieß es aus der Bildungsdirektion: "Der Kommission liegen substanzielle Hinweise dafür vor, dass es hier zu einem inakzeptablen und eventuell auch rechtswidrigen Fehlverhalten gekommen ist. Die Kommission erwartet in diesem Zusammenhang weitere Beweismittel und wird morgen in dieser Sache eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft übermitteln. Um etwaige Ermittlungen in diesem Zusammenhang nicht zu gefährden, bitten wir um Verständnis dafür, dass weitere Details dazu vorläufig nicht veröffentlicht werden können."

Zumindest 25 Opfer identifiziert

Wie berichtet, soll der Pädagoge zahlreiche Schüler missbraucht sowie kinderpornografisches Material angefertigt und gehortet haben. Polizeilichen Ermittlungen zufolge gibt es 25 Opfer, die identifiziert werden konnten. Von weiteren rund 15 Personen soll Bildmaterial existieren, das aber keinen konkreten Personen zugeordnet werden konnte. Kurz nach einer Anzeige im April 2019 erfolgte bei dem betroffenen Lehrer eine Hausdurchsuchung, vor der geplanten Einvernahme beging der Pädagoge im Mai 2019 Suizid. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden in weiterer Folge eingestellt. Der Tatzeitraum soll laut Polizei die Jahre 2004 bis 2019 betreffen.

Kein Ermittlungsverfahren trotz erster Anzeige im Jahr 2013

Der betroffene Lehrer war auch jahrelang als Betreuer für Kinder und Jugendliche in einem Ferien-Sommercamp am Wolfgangsee sowie in einem Wiener Sportverein tätig. Ein erster konkreter Tatverdacht wurde schon im Jahr 2013 vor der Polizei geäußert – also sechs Jahre vor jener Missbrauchsanzeige, die dann die Hausdurchsuchung auslöste: 2013 hatte ein mittlerweile erwachsener Ex-Teilnehmer des Feriencamps angegeben, dass es 2006 einen Übergriff im Zuge einer Massage gegeben habe. Ein Sprecher der Landespolizeidirektion Niederösterreich bestätigte dem STANDARD eine Beschuldigteneinvernahme des Betreuers im Jahr 2013.

In weiterer Folge dürfte es aber zu einem Behördenversagen gekommen sein: Denn ein offizielles Ermittlungsverfahren nach der Anzeige wurde offenbar nicht eingeleitet. "Es gibt aus dem Jahr 2013 kein diesbezügliches Ermittlungsverfahren", sagte eine Sprecherin des Justizministeriums. Auch bei den Staatsanwaltschaften Wien, Wiener Neustadt, Linz, Wels sowie Salzburg, die für den Fall in Betracht kommen könnten, fanden sich bei elektronischen Abfragen keine Hinweise auf ein Ermittlungsverfahren im Jahr 2013, wie es auf STANDARD-Anfragen hieß. (David Krutzler, 29.9.2022)