Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination sieht in seinem Gastkommentar in Österreich keine Asylkrise. Der burgenländische SPÖ-Landesgeschäftsführer Roland Fürst widerspricht in seinem Gastbeitrag vehement.

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Von Lukas Gahleitner-Gertz

Es gilt: Kein Beitrag zu Asyl und Migration darf ohne Referenz auf das Jahr 2015 auskommen. Jüngst haben die SPÖ-Bürgermeister wie auch die SPÖ-Spitzenkandidatinnen und -Spitzenkandidaten aus zwei Bezirken im Burgenland ein Manifest samt Appell an den Innenminister gerichtet und dabei "an das Jahr 2015" erinnert. Anlass sind die hohen Asylantragszahlen und wohl auch die anstehenden Gemeinderatswahlen.

Aus burgenländischer Sicht ist das auch nachvollziehbar: Anfang dieser Woche wurde in Österreich der 70.000ste Asylantrag in diesem Jahr verzeichnet, allein im August waren es über 14.000. Die allermeisten davon, rund 300 bis 400 täglich, im Burgenland. Die Polizei ist mit der Registrierung der Schutzsuchenden voll ausgelastet. Die 88.000 Anträge aus dem Jahr 2015 werden heuer aller Voraussicht nach übertroffen werden.

Dennoch ist die jetzige Situation bei genauer Analyse nicht mit 2015 vergleichbar. Wir stehen auch nicht vor einer Asylkrise, sondern vor den Auswirkungen einer vollkommen verfehlten Arbeitsmigrationspolitik in den EU-Mitgliedsstaaten. Die in der Praxis nichtexistenten legalen Migrationsmöglichkeiten in Verbindung mit dem Kampf des Innenministers gegen die Windmühlen der "illegalen Migration" führen hierzulande zu einer europaweiten Besonderheit: Im Vergleich zum Vorjahr verzeichnen wir ein Antragsplus von über 200 Prozent. In Ländern wie Italien oder Deutschland gibt es im selben Zeitraum nur ein Plus von circa 50 Prozent. Aber: Der Großteil, vor allem aus Indien und Tunesien, zieht nach Antragstellung in Österreich weiter und wird unter anderem von der arbeitskräfteintensiven Landwirtschaft in Südeuropa geradezu absorbiert.

Verlorene Aussagekraft

Die Asylantragszahlen haben ihre Aussagekraft verloren: Sie sagen nichts darüber aus, wie viele Schutzsuchende in Österreich grundversorgt und hier tatsächlich ihr Verfahren haben werden. Darüber geben uns die viel sensibleren, weil täglich aktualisierten Grundversorgungszahlen Auskunft: Ende 2015 waren 58.000 Asylwerberinnen und Asylwerber in der Grundversorgung registriert. Jetzt sind es – wie in den letzten beiden Jahren konstant – 19.000. Der Registrierungsaufwand bei Antragstellung ist unbestritten. Es kann aber keine Rede vom Erreichen einer Belastungsgrenze des Asylsystems sein: Die zweite Instanz hat seit Jahresbeginn ihre anhängigen Verfahren sogar um 1800 abgebaut.

Die tatsächliche Krise findet bei Unterkunft und Versorgung statt und wurzelt in der Fehlentscheidung, Vertriebenen aus der Ukraine – anders als Asylberechtigten – keinen Anspruch auf Sozialhilfe, sondern auf die wesentlich niedrigere Grundversorgung zu gewähren. Letztere erschwert aber den Zugang zum Arbeitsmarkt und verstärkt Abhängigkeit vom Sozialsystem. Das – und nicht die Asylanträge – stellt uns vor viel größere Herausforderungen als 2015. Ohne staatliche Unterstützung der durch die Teuerung belasteten privaten Quartiergeberinnen und Quartiergeber werden Menschen aus der Ukraine in organisierte Quartiere drängen.

Im Burgenland waren übrigens laut Zahlen des Innenministeriums diesen Montag 758 Asylwerberinnen und Asylwerber in Grundversorgung. Ende 2015 waren es 2157. Wir stehen vor Riesenherausforderungen, aber nicht vor einer "Asylkrise". (Lukas Gahleitner-Gertz, 30.9.2022)

Von Roland Fürst

Die Zahl der Asylanträge in Österreich steigt stark, bis Ende August waren es mehr als 56.000, das sind rund 195 Prozent mehr als im Vorjahr. In der Vorwoche wurden erstmals über 3100 Aufgriffe pro Woche registriert, mit dieser Entwicklung wird 2015 übertroffen. Seit Monaten wurde darauf hingewiesen, aber all jene, die das taten, wurden entweder ignoriert oder als Panikmacher etikettiert.

An der burgenländischen Grenze sind die Menschen täglich mit dem geplatzten türkisen Märchen der geschlossenen Balkanroute konfrontiert. Trotz dieser Hinweise aus dem Burgenland haben die ÖVP-Innenminister Karl Nehammer und sein Nachfolger Gerhard Karner diese Entwicklung ignoriert.

Mittlerweile vergeht kaum eine Woche, in der es nicht zu dramatischen Szenen an der Grenze kommt, wo Menschen durch skrupellose Schlepper sterben (zuletzt drei Tote bei Kittsee im August) und Dutzende verletzt werden. Die Verunsicherung der betroffenen Bevölkerung steigt.

Zwischen Ignoranz und Relativierung

Die Reaktion vonseiten der Bundesregierung schwankt zwischen Ignoranz (ÖVP) und Relativierung (Grüne), die dann auch noch verstärkt wird: Noch im Sommer wurde von Migrationsforschern und NGOs mitgeteilt, dass zwar viele Asylanträge gestellt werden, die meisten aber in ein anderes EU-Land "weiterziehen", nur, das ist auch ein Märchen. Fakt ist, dass etwa das Burgenland die Verteilungsquote mit 104 Prozent (ohne Ukraine) erfüllt und die Zahlen in der Grundversorgung im Burgenland (laut Landesstatistik) bereits jene von 2015 mit knapp über 3000 Menschen übersteigen. Für das Budget bedeutet das eine Steigerung von sechs auf mehr als 15 Millionen Euro bis Jahresende. Die Bevölkerung nicht nur im Burgenland hat sich in dieser Frage daher eine ehrliche sachliche Diskussion verdient, ohne Ignoranz, Etikettierung und Relativierung und ohne Märchen.

Dieser unehrliche und ideologisch aufgeladene Diskurs in Österreich spiegelt aber auch das Dilemma in Europa wider, wo sich mehrere Zugänge pragmatisiert haben: Die einen fragen empört, wie Europa das zulassen kann, und plädieren dafür, die Grenzen weit aufzumachen, etikettieren andere Meinungen als "rechts" oder "inhuman". Populistische, rechte und rechtsextreme Migrationsgegner hingegen missbrauchen die Situation und gewinnen die Wahlen, siehe Italien. Und die EU-Administration ignoriert das Thema einfach.

Gespickt werden diese Zugänge mit irrationalen, falschen und schlichtweg substanzlosen "Argumenten", die im politischen Diskurs rasch zu einem Dilemma, aber zu keiner vernünftigen Lösung führen. Alle Zugänge sind "schlecht" (Philosoph Slavoj Žižek). Aus diesem Dilemma müssen wir uns befreien, indem wir "ansprechen, was ist" (Ferdinand Lassalle). Österreich ist mit knapp neun Millionen Einwohnern eines der kleineren Länder der EU, ist aber "Weltmeister" (Migrationsforscher Gerald Knaus) bei der Aufnahme von Flüchtlingen.

Das Recht auf Asyl ist unverhandelbar, muss aber von Migration endlich im Diskurs scharf unterschieden werden. Denn genauso unverhandelbar ist das Recht eines souveränen Staates, seine Grenzen zu sichern und bei der Migration zu bestimmen, wer nach Österreich kommen soll und wer nicht! (Roland Fürst, 30.9.2022)