Plakate in Moskau suggerieren, dass die Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson zu Russland gehören.

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Der Rote Platz in Moskau erscheint ganz in Blau: Zahlreiche Open-Air-Bühnen und Leinwände wurden errichtet und mit blauen Bannern eingekleidet. Die darauf prangende Aufschrift – "Donezk, Luhansk, Saporischschja, Cherson, Russland. Gemeinsam für immer!" – macht unmissverständlich klar, was dort am Freitagnachmittag gegen 15 Uhr Ortszeit per Liveübertragung von Wladimir Putin verkündet werden dürfte: der Anschluss ebendieser vier besetzten Gebiete der Ukraine, nachdem sich die Bewohner in völkerrechtswidrigen Pseudoreferenden für einen Beitritt zur Russischen Föderation ausgesprochen haben – wohl auch weil die Stimmzettel zum Teil von Bewaffneten ausgehändigt wurden.

Der Unterzeichnung der Beitrittsabkommen im Kreml beiwohnen sollen neben den 450 Abgeordneten der Staatsduma auch die vier von Russland unterstützen Besatzungsanführer der Regionen Luhansk und Donezk im Donbass und Cherson und Saporischschja im Süden. Das dort von Russland beanspruchte Gebiet macht in Summe 15 Prozent der Staatsfläche der Ukraine aus: 90.000 Quadratkilometer – etwas mehr als die Gesamtfläche Österreichs. Dies wäre damit die größte gewaltsame Annexion in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. 2014 hatte Moskau sich bereits die Schwarzmeerhalbinsel Krim einverleibt. Zusammen mit der Krim stehen knapp 20 Prozent des ukrainischen Territoriums unter russischer Kontrolle.

Die Ankündigung erfolgt just zu jenem Zeitpunkt, an dem die ukrainische Gegenoffensive bedeutende Erfolge erzielt. Zuletzt konzentrierten sich die Kämpfe um die für Russland strategisch wichtige Stadt Lyman in Donezk, wo die ukrainische Armee derzeit versucht, einen Kessel um die verbleibenden russischen Soldaten zu schließen. Moskau will mit einem zügigen Anschluss wohl auch versuchen, seine bisherigen Geländegewinne vor weiteren Verlusten zu zementieren. Zuletzt hatte der Kreml von der Region Donezk als "Mindestziel" seines bisher wenig erfolgreichen Krieges gesprochen.

Große Eskalationsgefahr

Doch es geht nicht nur darum, neue Tatsachen zu schaffen. Der Anschluss kommt auch einer gefährlichen Eskalation und einer Drohung an die Ukraine und den Westen gleich: Denn Putin könnte damit jeden ukrainischen Versuch, besetzte Gebiete zurückzuerobern, als einen Angriff auf Russland selbst darstellen. Und zur "Verteidigung der territorialen Integrität" Russlands sei er bereit, Atomwaffen einzusetzen. Das hat Putin erneut vergangene Woche erklärt.

Sprengpotenzial haben derzeit auch die mysteriösen Lecks an den zwei stillgelegten Nord-Stream-Gaspipelines, die am Meeresgrund der Ostsee von Russland nach Deutschland verlaufen. Nachdem zu Beginn der Woche drei Lecks nach einem plötzlichen Druckabfall und von Seismologen aufgezeichneten Explosionen entdeckt worden waren, meldete Schweden am Donnerstag den Fund eines vierten Lecks, das die weitverbreitete Annahme eines Sabotageaktes unterstreichen dürfte.

Während die Suche nach dem Hergang und möglichen Urhebern noch andauert, zeigen aber mehr und mehr westliche Politiker mit dem Finger auf Moskau. Der Ex-Präsident des deutschen Nachrichtendienstes, Gerhard Schindler, geht im Welt-Interview davon aus, dass nur ein Staat zu einem entsprechenden Anschlag fähig sei, und erklärt, dass für ihn nur Russland infrage komme. David Goldwyn, Ex-Energieexperte im US-Außenministerium, erinnert an einen Vorfall in Turkmenistan, wo Russland 2009 eine Pipeline mutmaßlich per Explosion beschädigt haben soll. Er sieht die Lecks als russische Drohung, den Gashahn komplett abzudrehen. Bei dem Krisentreffen der EU-Energieminister am Freitag werden die Lecks jedenfalls Thema sein. Die spanische Energieministerin Teresa Ribera hielt es am Donnerstag für "wahrscheinlich", dass die Spur zum Kreml führt.

Schuldzuweisungen

Moskau sieht dagegen den Nato-Staat Norwegen, Anwärter Schweden und die USA, aufgrund der Präsenz ihrer Schiffe, als mögliche Urheber dieses "staatlich geförderten Terrorakts". Washington könnte damit seine Flüssiggastransporte nach Europa begünstigen wollen.

US-Produzenten liefern derzeit nach Angaben von "Politico" bereits 60 Prozent ihrer Produktionsmengen in Richtung EU und stoßen damit an Kapazitätsgrenzen. US-Energieministerin Jennifer Granholm, die derzeit in Wien weilt, warnt, dass es die Gasinfrastruktur nun umso mehr vor Sabotageakten zu schützen gelte: "höchste Alarmbereitschaft".

Laut dem Pipelinebetreiber Nord Stream könnten die Lecks jedenfalls erst am Montag gestoppt werden. Bis dahin blubbert weiter Methan aus der Röhre an die Meeresoberfläche – in beispiellosen Mengen. Erst danach können nach dänischen Angaben Taucher die Röhre untersuchen. (Flora Mory, 29.9.2022)