Wladimir Putin hat dem Westen den Krieg erklärt. Er führt diesen Krieg militärisch (zunächst?) gegen die Ukraine und wirtschaftlich mit dem Zudrehen des Gashahns. Putin ist im Jahr 2000 an die Macht gekommen, als Russland sich infolge der unkontrollierten Liberalisierung unter seinem Vorgänger Boris Jelzin in einer schweren sozialen und wirtschaftlichen Krise befand.

Permanente Spannungen

Eine solche steht dem Land nun durch die westlichen Sanktionen nach dem Überfall auf die Ukraine bevor. Im Vergleich zur mehr als tausendjährigen Geschichte Russlands ist dieses knappe Vierteljahrhundert ein Klacks. Und doch zeigt es paradigmatisch das Spannungsverhältnis des Landes zur westlichen Welt, das sich durch die Jahrhunderte zieht.

Manfred Hildermeier, "Die rückständige Großmacht. Russland und der Westen". € 18,50 / 271 Seiten. C. H. Beck, München 2022

Der deutsche Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeier, der bereits zwei Standardwerke über die Geschichte Russlands und der Sowjetunion veröffentlicht hat, beleuchtet dieses Spannungsverhältnis in seinem neuen Buch Die rückständige Großmacht – Russland und der Westen von Anfang an. Und Hildermeier stellt klar: Schon die Kiewer Rus, auf die sich Putin in seinem Anspruch auf die Ukraine zynischerweise beruft, war Teil des christlichen Europa, vor allem durch eine strategisch angelegte Heiratspolitik ihrer Fürsten.

Zar Peter der Große (reg. 1682– 1725) stieß das Fenster, das einige seiner Vorgänger bereits zaghaft geöffnet hatten, mit aller Gewalt auf. Fast alle seiner Maßnahmen hatten ihr Vorbild im Westen, der für Peter in der Süd-Nord-Ausdehnung von Oberitalien bis Schweden und England reichte. Die Reformen umfassten praktisch alle Bereiche des Staates, von der lokalen über die Reichsverwaltung bis zur Bildung.

Nach einer Phase relativer Stagnation betrieb Katharina die Große (reg. 1762–1796), als geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst selbst Deutsche, die Erneuerung des Staates nach westlichen Maßstäben mit ungeheurem Elan voran. Unter Zar Alexander I. (reg. 1801–1825) erreichten die liberalen Reformen ihren Höhepunkt und zugleich ihr Ende.

Der gescheiterte, von westlichen Ideen inspirierte Putschversuch hochrangiger Gardeoffiziere im Dezember 1825 ließ seinen Nachfolger Nikolaus I. (reg. 1825–1855) auf die Reformbremse steigen. Aber auch der neue russische Nationalismus samt Bekenntnis zu Absolutismus, Leibeigenschaft und einer gefügigen Gesellschaft hatte sein Vorbild laut Hildermeier im spätromantischen Denken in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern.

Gegenentwürfe

Wie aber steht es um die ideologische Basis des Sowjetstaates, der nach dem bolschewistischen Umsturz im Oktober 1917 entstand? Er verstand sich als Gegenentwurf sowohl zur alten zarischen als auch zur bestehenden sozioökonomischen und politischen Ordnung des Westens. Doch habe sich der Sowjetsozialismus, schreibt Hildermeier, primär als Industrialisierungsideologie und somit als Fortsetzung der jahrhundertelangen Anstrengungen Russlands erwiesen, zum Westen aufzuschließen – sosehr man ihn gleichzeitig verteufelte. An vielen großen Industrialisierungsprojekten vor dem Zweiten Weltkrieg waren westliche Unternehmen beteiligt. Hildermeier spricht von einer "paradoxen Kooperation".

In einem Bereich allerdings kehrte sich der Transfer um. Der völlig eigenständigen Kunstrichtung, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland entwickelte, ging es um Einsichten in die Mehrdimensionalität der Wirklichkeit. Mit Künstlern wie Kasimir Malewitsch oder Wassili Kandinsky setzte sich die russische ästhetische Avantgarde an die Spitze der Weltkunst und gab der Entwicklung im Westen die Richtung vor.

Trotz eines mitunter allzu wissenschaftlichen Jargons, der auch die für Laien befremdliche Schreibweise russischer Namen umfasst, bringt das Buch einen großen Erkenntnisgewinn. Es trägt zum Verständnis der "russischen Seele" bei, was immer man darunter versteht. Wenn es sie gibt, ist sie jedenfalls von Widersprüchen und Zerrissenheit geprägt.

Die Abfolge von Phasen der West-Orientierung und der Abwendung vom Westen lässt aus westlicher Sicht hoffen, dass der gegenwärtige antiwestliche Kurs mit der Ära Putin endet. Die Frage ist nur, wann. Denn noch immer gilt, was Winston Churchill im Oktober 1939 nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes über Russland sagte: "Ein Rätsel, eingewickelt in ein Mysterium inmitten eines Geheimnisses (a riddle wrapped in a mystery inside an enigma)." (Josef Kirchengast, 1.10.2022)