Die Kleinfamilie und beruflicher Erfolg. Bis heute scheinen das die sichersten Zutaten zu einem gelungenen Leben zu sein. Um eigene Wege zu finden, abseits von patriarchalen und neoliberalen Trampelpfaden, dafür fehlt vielen die Zeit. Die Zeit für und mit sich allein. Die Autorin und Aktivistin Sarah Diehl plädiert in ihrem eben erschienenen Buch "Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung" für das Alleinsein. Auf Reisen, in der Natur oder in der Faulheit – um so auf eigene Leidenschaften und Interessen zu stoßen, aber auch persönliche Grenzen zu erkennen.

Diehls Untersuchung legt auch das politische Potenzial des Alleinseins frei. Die Frage nach einem selbstbestimmten Leben ist für die 44-Jährige nicht neu. In ihrem 2014 erschienenen, vielbeachteten Buch "Die Uhr, die nicht tickt" beschäftigte sich Diehl mit der omnipräsenten Erzählung der kinderlosen Frau als Mangelwesen und zeigte auf, was unsere Gesellschaft gewinnen kann, wenn Frauen nicht mehr an dem Diktat zur Mutterschaft leiden.

STANDARD: Als ich Sie für das Interview angefragt habe, kam eine Abwesenheitsnotiz. Sie sitzen gerade auf dem Fahrrad Richtung Schwarzes Meer, hieß es darin. Waren Sie allein unterwegs?

Diehl: Ja, die meiste Zeit schon. Die ersten zehn Tage bis nach Bratislava war mein Freund dabei, was sehr schön war, um eine solche Reise zu beginnen. Doch dann bin ich die restlichen 1500 Kilometer gerne allein weiter, um meinem eigenen Rhythmus beim Fahren Raum zu geben. Ich habe gemerkt, dass ich oft nicht anhalte, wenn man zusammen fährt. Etwa um mir etwas genauer ansehen zu können, das mich interessiert – und das will ich oft. Ich finde allein fahren schön. Nachdem ich wochenlang allein unterwegs gewesen bin, stellte sich ein gewisser Flow ein – und der stellt sich leichter ein, wenn man nicht ständig kommunizieren muss.

Für Sarah Diehl ist das Alleinsein ein Ort, an dem man lernt, gut zu sich selbst zu sein.
Foto: Ivo Mayr

STANDARD: Reisen Sie generell viel allein?

Diehl: Ja, ich reise meistens und sehr gern allein. Ich komme größtenteils gar nicht drauf, jemanden zu fragen, ob er mitkommt.

STANDARD: Haben Sie nie Angst, wenn Sie allein unterwegs sind?

Diehl: Ich glaube, es ist wirklich eine der größten Lügen des Patriarchats, dass Frauen gefährdeter seien, wenn sie allein unterwegs sind. Jede Statistik zeigt, dass Frauen eher in ihren Familien Gewalt ausgesetzt sind. Man erzählt ihnen, dort wären sie geschützter – dabei sind das die Räume, wo Frauen Gewalt angetan wird, psychologisch und körperlich. Allein reisen ist sicherer, als sich einzig dem Schutz des eigenen Mannes auszuliefern. Mich macht das immer wieder baff, wie viele Frauen mir erzählen, dass sie Angst vor dem Alleinreisen haben. Ich bin gerade 7000 Kilometer gefahren, und es gab eine einzige ambivalente Situation, die ich aber gut klären konnte. Ich würde gar nicht darauf kommen, dass es gefährlich ist, wenn ich allein mit dem Fahrrad unterwegs bin.

STANDARD: Was war der Anstoß für Sie, ein Buch übers Alleinsein zu schreiben?

Diehl: Zum einen war es ein Weiterdenken meines Buches "Die Uhr, die nicht tickt", aus dem sich noch viele Erkenntnisse und Gespräche entwickelten, die ich aufarbeiten wollte. In diesem Buch ging es sehr viel um Scham und darum, warum Frauen internalisieren, auf eine bestimmte Art und Weise sein zu müssen, um Anerkennung zu bekommen. Eine Anerkennung, die sie sich allein nicht geben können. Ich wollte nochmals klarer aufdröseln, warum sich die Menschen in so einem krassen Strudel von Familienplanung, Lohnarbeit und Erfolgsstreben wiederfinden. Warum haben sie so große Angst, ihren eigenen Bedürfnissen nachzugehen, sind sogar unsicher, was tatsächlich ihre Bedürfnisse im Abgleich an die Leistungsgesellschaft sind? An dem Thema Alleinsein kann man das sehr gut betrachten. Die Frage, wie wird man ein erfolgreicher Mensch, geht mit viel Selbstzensur einher, die man als solche erst erkennt, wenn man allein ist und bei sich ist. Wir lernen gar nicht, uns selbst einen Wert zu geben, der Selbstwert ist bei sehr vielen immer von anderen Menschen abhängig. Das ist einer der großen Gründe, warum Alleinsein so stark mit Scham besetzt ist. Zum anderen lässt sich über das Alleinsein sehr gut das Politische mit sinnlichen Erfahrungen und Kreativität verknüpfen, denn es öffnet die Körpersinne und die Vorstellungskraft. Diese Verbindung fehlt mir in vielen Betrachtungen.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Buch eine starke Orientierung an Leitbildern, die von den eigenen Bedürfnissen wegführen. Beeinflussen uns Vorstellungen, wie wir sein müssen, um "richtig" zusein, heute stärker?

Diehl: Ich glaube, dass sie immer wirkmächtig waren, doch sie modellieren sich ja immer wieder neu und erscheinen in der jeweiligen Zeit attraktiv. Nehmen wir etwa diese Darstellungen von der 50er-Jahre-Hausfrau, die heute auf lustigen Postkarten gezeigt werden: eine Frau, umringt von Küchengeräten und mit perfektem Aussehen. Darüber schmunzeln wir heute. Aber damals haben diese Ideale halt funktioniert. Reinlichkeit, Ordnung und Fürsorge funktionierten nach dem Krieg als Ideal, damit sollten sich Frauen identifizieren, um so einen Wert zu bekommen. Heute lachen wir über diese Darstellung, dabei war das damals etwas, womit Frauen wirklich Gewalt angetan worden ist, damit sie als das unbezahlte Fürsorgepersonal in der Kleinfamilie funktionieren, das sollten wir uns klar machen. Heute haben wir aber andere Ideale, die uns unterdrücken und normieren, zum Beispiel Perfektionismus in der Mutterschaft. Es ist heute nicht die Reinlichkeit, sondern zum Beispiel die Psychologie des Kindes. Die ganze Verantwortung für die psychologische Entwicklung eines Kindes wird den Müttern angelastet, und wenn sie dieses Projekt nicht richtig machen, dann sind sie schuld an der Verkorksung eines Menschen. Das ist wirkmächtig, und es bindet Frauen in ihren Kapazitäten und ihrem Selbstbewusstsein, sich Freiräume zu nehmen, enorm.

STANDARD: Sie schreiben, Alleinsein wird als eine Bedrohung inszeniert und stigmatisiert. Warum?

Diehl: Es gibt eine Vorstellung von Gesellschaft, in der Menschen auf eine bestimmte Art und Weise diszipliniert werden müssen, damit die Gesellschaft funktioniert. Staatstheorien wie jene von Thomas Hobbes wirken noch immer sehr stark. Demnach wäre die Fassade sehr dünn, und darunter sind wir noch Tiere. Deswegen müssten wir durch Verbote, Zwang und Erziehung erst zu sozialen Wesen gemacht werden. Das ist ein Misstrauen gegenüber Menschen, das ich für verrückt halte. Daher ist mir so wichtig, immer wieder zu betonen, dass Alleinsein für mich keine Opposition zur Gemeinschaft ist, sondern Alleinsein ist ein Ort, wo du lernst, wie du gut zu dir bist. So lernt man letztlich, gut zu anderen zu sein. Disziplinierung, die man sich selbst antut, tut man auch anderen an. Im Alleinsein können wir lernen, die eigenen Bedürfnisse als etwas Positives wahrzunehmen und nicht als etwas, das man runterdrücken muss. Im Alleinsein kann man sich selbst erproben, ohne gleich den Bewertungen anderer ausgesetzt zu sein.

STANDARD: Wann wird Alleinsein zu etwas Negativem? Etwa zu Isolation oder zu Einsamkeit, die immer wieder als Phänomen unserer Zeit bezeichnet wird.

Diehl: Dass immer mehr Leute heute Singles sind, könnte auch ein Hinweis sein, dass viele Menschen die alten Konzepte als zu eng empfinden, doch gleichzeitig keine neuen Konzepte von Gemeinschaft in unserer Gesellschaft finden. Dieses Festhalten an Familie mit Mutter, Vater, Kind in einem heteronormativen, gesetzlich abgegoltenen Rahmen – viele wollen nicht mehr so leben. Gleichzeitig sind andere Verantwortungsgemeinschaften noch unsichtbar, werden stigmatisiert oder sind für viele Menschen einfach nicht organisierbar.

Sarah Diehl, "Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung". € 25,50 / 368 Seiten. Arche-Verlag, Zürich 2022
Foto: Arche-Verlag

Ich glaube, das ist ein Grund, warum viele Menschen vereinsamen. Wir haben andere Verantwortungsgemeinschaften sogar durch Gesetze aktiv verhindert. Menschen werden noch immer davon abgehalten, eine Familie zu gründen, weil sie nicht Mutter, Vater, Kind entsprechen. Gleichzeitig wird von der Einsamkeit in Paarbeziehungen überhaupt nicht gesprochen. Dabei stecken viele in lieblosen Beziehungen fest und vereinsamen in der Partnerschaft, weil sie durch diese davon abgehalten werden, rauszugehen und andere Freundschaften zu gründen.

STANDARD: Wo liegt jetzt das politische Potenzial des Alleinseins?

Diehl: Wir lernen durch das Alleinsein, uns unabhängig von Gruppenzwängen zu machen, und können so Normen besser hinterfragen. Und wir können lernen, eigene Grenzen besser zu spüren, die in einer Leistungsgesellschaft permanent überschritten werden. Ich halte eine Aufwertung von Faulheit wichtig, weil sie Muße ist. Ebenso wichtig ist guter Schlaf. Im Buch kommt dieses Beispiel des Chirurgen vor, der sich irgendwann einen Stuhl in sein Büro stellt, in dem er auch einmal ein paar Minuten schlafen kann, ohne dass es auffällt. Schlaf ist in der Klinik verpönt – auch wenn man eine elendslange OP vor sich hat. Das ist verrückt. Wenn Menschen ihren Bedürfnissen nachgehen, bekommen wir eine humanere, kreativere, offenere und lebendigere Gesellschaft. (Beate Hausbichler, 2.10.2022)