STANDARD: Tritt der Krieg nach den Scheinreferenden und der Annexion ukrainischer Gebiete in eine neue Phase?

Witali Kim: Die sogenannten Referenden (und die Annexion, Anm.) sind für Russland nur ein Instrument, um der eigenen Bevölkerung zu erklären, wieso sie das alles machen. Sie bieten Russland auch die Möglichkeit, unsere Leute in den okkupierten (ukrainischen, Anm.) Gebieten zu mobilisieren. Sie geben dort ja russische Pässe aus. Und ohne einen russischen Pass kann man da auch kaum mehr leben. Man kann nichts bezahlen, man kann nicht bezahlt werden. Das bedeutet: kein Strom, kein Gas. Und wenn unsere Leute in den okkupierten Gebieten einen russischen Pass annehmen, dann können sie auch mobilisiert werden, um gegen uns zu kämpfen.

Witali Kim, Gouverneur des ukrainischen Oblast Mykolajiw: "Manche Dinge können wir nicht vergessen – und auch nicht vergeben."
Foto: BULENT KILIC / AFP

STANDARD: Wo wird dieser Krieg letztlich entschieden werden?

Kim: Der Sieg ist eine Frage von vielen kleinen Erfolgen. Jeder, die ganze Welt, hilft uns, gegen das Böse zu kämpfen. Anders kann man das nicht ausdrücken. Deshalb: Jeder Protest in Dagestan, jeder Protest in Russland, all die Hilfe unserer ausländischen Partner werden uns dabei helfen, zu gewinnen.

STANDARD: Und da sind dennoch viele Stimmen in Westeuropa, die meinen, es brauche eine diplomatische Lösung ...

Kim: Stellen Sie sich vor, ich komme zu Ihnen nach Hause, schnappe mir ein Zimmer in Ihrem Haus, dann nehme ich mir Ihre Frau, und dann sage ich: Lasst uns doch verhandeln. Was gibt es da zu verhandeln?

STANDARD: Was betrachten Sie als das größte Risiko für diesen Winter?

Kim: Den Beschuss. Wenn es keinen Beschuss gibt, haben die Leute auch kein Problem.

STANDARD: Russland wird immer ein Nachbar sein ...

Kim: Den können wir uns nicht aussuchen.

STANDARD: Wie können Sie sich die Beziehungen zu Russland in der Zukunft – fern oder nah – vorstellen?

Kim: Ich kann nichts Neues schaffen in der Geschichte. Ich kann die Geschichte unseres Planeten nicht neu schreiben und Tatsachen verändern. Aber normalerweise war es immer so, dass die Menschen nach zwei Generationen damit beginnen, einander zu vergeben und zu vergessen. So war das immer. Ich denke, dass die Probleme mit unserem Nachbar mindestens die kommenden zwei Generationen bestimmen werden. Denn manche Dinge können wir nicht vergessen – und auch nicht vergeben.

STANDARD: Die Ukraine galt immer als Land mit schwachen Institutionen. Doch in Krisenzeiten funktioniert sie wie ein Uhrwerk. Wie erklären sie sich dieses Paradoxon?

Kim: Das liegt in unserer Natur, das ist in unserer DNA. Viele von uns arbeiten eben nur in Extremsituationen sehr gut. Wir bleiben ruhig, leben unser Leben, lassen uns nicht von Alltagsproblemen beeindrucken – aber wenn es Gefahr gibt, dann stehen wir auf und verteidigen uns und arbeiten hart an unserem Sieg. So wie jetzt. Wir sind nicht bereit aufzugeben, was uns gehört.

STANDARD: Aber je länger die Situation der Okkupation anhält, umso mehr wird sich auch die Demografie in den besetzten Gebieten verändern. Befürchten Sie, dass das die Rückeroberung dieser Gebiete erschwert? Sehen Sie die Gefahr, dass diese jetzige Offensive umso langsamer wird, desto mehr sie in den Osten weiterwandert?

Kim: Auf jeden Fall und in jeder Hinsicht. Weil die Zeit in diesem Punkt gegen uns arbeitet. Die Russen haben Fernsehen, sie haben Propaganda, sie zwingen Menschen, für sich zu arbeiten. Viele Leute rührt Politik nicht. Die wollen nur leben – und das ist alles. Aber generell arbeitet die Zeit für die Ukraine: Wie haben die Unterstützung der Welt, und die Stärke unserer Armee wächst stetig. Wir stehen aber am Schnittpunkt dieser Vektoren.

STANDARD: Militärische Hilfe ist eine Dimension, humanitäre Hilfe ist die andere Dimension. Was braucht es da?

Kim: Es braucht die humanitäre Unterstützung genauso wie die militärische. Ja: Wir haben limitierte Ressourcen. Wir haben den Willen und die Motivation, uns zu verteidigen. Aber wir haben keine Wahl. Wenn Russland diesen Krieg beendet, wird dieser Krieg enden. Wenn wir diesen Krieg beenden, wird es keine Ukraine mehr geben. Das ist der Unterschied.

STANDARD: Wie lange kann eine Region wie Mykolajiw, die von Landwirtschaft und vor allem auch dem Export von Getreide abhängt, durchhalten?

Kim: So lange, wie wie es hier Menschen gibt und Hilfe. Wir hängen derzeit von der Regierung in Kiew und auch von internationalen Partnern ab. Unsere Region kann alleine nicht bestehen – nur gemeinsam mit der Ukraine. Sowohl militärisch als auch ökonomisch.

STANDARD: Sehen Sie den Signale, dass sich die unmittelbare Bedrohung bald ändern könnte?

Kim: Auf dem Schlachtfeld, ja. Aber wenn wir über die Gesamtlage sprechen, sehe ich das nicht so. Denn Russland ist kein logisch agierendes Land.

STANDARD: Und besteht denn das Risiko, dass diese russische Logik auch in Westeuropa Früchte trägt und politische Folgen hat, was die Unterstützung der Ukraine angeht?

Kim: Was den Westen angeht, agiert Russland sehr logisch. Sie sagen: Es wird sehr teures Gas geben, hört auf, die Ukraine zu unterstützen. Sie verwenden Logik, wenn sie sie brauchen. (Stefan Schocher aus Mykolajiw, 1.10.2022)