Von Plakaten, auf Websites, auch in der Straßenbahn – von überall her blicken die Gesichter von Politikerinnen und Politikern seit Wochen auf die bosnischen Bürger und Bürgerinnen. Es sind wohl so viele wie in wohl keinem anderen Staat in Europa: 7.200 Politiker und Politikerinnen stellen sich zur Wahl. Denn am sonntäglichen Superwahltag werden nicht nur die Parlamente des Gesamtstaats und der beiden Landesteile Republika Srpska und Föderation gewählt, sondern auch der oder die Präsidentin der Republika Srpska, die Vertretungen der zehn Kantone im Landesteil Föderation sowie das Staatspräsidium, das den Gesamtstaat vertritt.

Die Qual der Wahl in Bosnien am Superwahlsonntag.
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Spannend wird vor allem, inwieweit ein Regierungswechsel möglich sein könnte. Zurzeit ist eine Koalition der größten nationalistischen Parteien auf gesamtstaatlicher Ebene an der Macht. Die bosniakisch-konservative SDA, die separatisch-nationalistisch-serbische SNSD und die kroatisch-nationalistische HDZ teilen sich die Ministerien untereinander auf.

Im Landesteil Föderation gibt es seit den letzten Wahlen 2018 gar keine gewählte, sondern nur eine technische Regierung, weil die HDZ die Regierungsbildung seit 2018 blockiert. Die Neun-Prozent-Partei HDZ will mit dieser Blockadepolitik erreichen, dass ihre Vorstellungen von einer Änderung des Wahlgesetzes umgesetzt werden. Die Blockadepolitik der HDZ hat weitreichende, sehr negative Auswirkungen für andere Institutionen – so können deshalb etwa auch keine Richter fürs Verfassungsgericht nachbesetzt werden.

Boykottpolitik der HDZ

Falls nun nach den kommenden Wahlen auf der Gesamtstaatsebene eine Koalition ohne die HDZ zustande kommen könnte, würde die HDZ möglicherweise in der Frage des Boykotts auf der Ebene der Föderation einlenken und ihre bisherigen Blockaden aufgeben. Denn die HDZ hat großes Interesse, einige Minister auf der Gesamtstaatsebene zu stellen.

Im Kanton Sarajevo wurde nach den letzten Lokalwahlen eine Koalition gebildet, an der die als korrupt verschrienen großen nationalistischen Parteien nicht teilhaben. In Sarajevo regieren seither die Sozialdemokraten mit der liberal-grünen Partei Naša Stranka und der Partei "Volk und Gerechtigkeit". Auf Gesamtstaatsebene wäre aber eine Koalition ohne die großen korrupten Parteien nur dann möglich, wenn auch die Opposition im Landesteil Republika Srpska ausreichend Stimmen gewinnt.

In der Republika Srpska, wo eine serbisch-nationalistische Ideologie dominiert, wird zudem spannend werden, wie die junge Ökonomin und Universitätsprofessorin Jelena Trivić von der Partei des Demokratischen Fortschritts (PDP) gegen den ultrarechten, vom Kreml unterstützten Separatisten Milorad Dodik abschneiden wird.

Separatist Milorad Dodik.
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Beide kandidieren für das Präsidentenamt der Republika Srpska. Falls die Pro-Kreml-Fraktion insgesamt in der Republika Srpska gut abschneiden sollte, wird das die Möglichkeiten Russlands, sich noch mehr in die inneren Angelegenheiten von Bosnien-Herzegowina einzumischen, verstärken und das Land weiter destabilisieren. Falls die – nicht derart korrupte und vor allem nicht auf die Zerstörung des Staates Bosnien-Herzegowina ausgelegte – Opposition zulegen kann, würde das insgesamt zur Stabilisierung beitragen.

Gefährliche Muslimfeindlichkeit

Dodik fiel im Wahlkampf nicht nur mit großer Nähe zum Kreml auf – er besuchte jüngst den russischen Präsidenten Wladimir Putin, unterstützt dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die illegalen Referenden in der Ostukraine –, sondern auch mit rassistischen Äußerungen. So sagte er kürzlich, dass man den Serben in der Republika Srpska (RS) nicht zumuten könne, gemeinsame Schulen und Schulbücher "mit Muslimen" zu haben. Das ist für viele Nichtserben (etwa 200.000 in der Republika Srpska) besonders bedrohlich, weil Nichtserben während des Krieges gegen Bosnien-Herzegowina (1992–1995) gezielt und massenhaft vertrieben, ermordet oder in Lager gebracht worden sind. Die ethnischen Säuberungen hatten zur Folge, dass viele Nichtserben in der RS weiterhin in Angst leben.

Während Deutschland wegen der Versuche von Dodik, die Architektur des Staates Bosnien-Herzegowina zu zerstören, effektive Sanktionen verhängte – es wurden Gelder gesperrt –, hat die EU das Zeitfenster nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine nicht genützt, um den Pro-Kreml-Politiker Dodik mit Sanktionen zu isolieren. Denn Dodik wurde und wird vom rechtspopulistischen Regime Ungarns unterstützt, aber auch das österreichische Außenamt ist gegen Sanktionen gegen Dodik. Der ungarische Premier Viktor Orbán unterstützte Dodik ganz offen und aktiv im Wahlkampf.

Schmidts Vorschlag als Wahlkampfthema

Gerade weil die EU in Bosnien-Herzegowina nicht in der Lage ist, effektiv Außenpolitik zu betreiben, haben sich im Vorfeld der Superwahl die USA und Großbritannien mit Initiativen eingebracht. So wurde Ende Juli ein Vorschlag für die Änderung der Verfassung des Landesteils Föderation und des Wahlgesetzes geleakt, die der Hohe Repräsentant Christian Schmidt durchführen wollte – offenbar auf Druck der Amerikaner und Briten. Der geleakte Entwurf sorgte für Schockwellen und eine große Demonstration in Sarajevo, nicht nur weil es nicht den Standards entspricht, nicht kurz vor der Wahl die Regeln des Spiels zu ändern, sondern weil Schmidts Plan ganz offensichtlich auf die Wünsche der HDZ und damit auch auf ihre an Erpressung erinnernde Politik einging.

Der Deutsche Christian Schmidt gilt in Bosnien als umstritten.
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Kein anderes Thema hat den Wahlkampf mehr beeinflusst als Schmidts Vorschlag, den er dann zwar doch nicht umsetzte, aber von dem nach wie vor unklar ist, ob er ihn nicht irgendwann nach der Wahl doch noch mittels seiner Bonner Vollmachten oktroyiert.

Die USA wollen offenbar mit diesen Gesetzes-Oktroys durch Schmidt erreichen, dass der Landesteil Föderation deblockiert wird. Sie glauben zudem, dass damit eine Zusammenarbeit der nationalistischen HDZ mit der nationalistischen SDA möglich werden könnte, die die Separatisten rund um Dodik isolieren soll, obwohl diese Argumentationskette nicht besonders einleuchtend erscheint.

Ethnizitätsprinzip versus Staat der Bürgerinnen

Für die Bosnier und Bosnierinnen, die einen Bürgerstaat wollen, ein multinationales Zusammenleben, bei dem individuelle Rechte vor Gruppenzugehörigkeiten – wie sonst überall in Europa – gestellt werden, ist der Vorschlag von Schmidt auf besonders starke Kritik gestoßen. Denn sie sehen darin eine gefährliche Einmischung von Politikern aus dem Nachbarstaat Kroatien – insbesondere des Bosnien-Herzegowina feindlich gesonnenen, aggressiv-nationalistischen kroatischen Präsidenten Zoran Milanović, der dauernd eine Änderung des Wahlgesetzes im Nachbarstaat fordert.

Diese nicht nationalistischen Bosnier und Bosnierinnen wollen aber vor allem nicht, dass dem Prinzip von Ethnizität noch mehr Bedeutung verliehen wird als bisher. Es gibt in Europa schließlich keinen anderen Staat, wo Ethnizität in der Verfassung so stark verankert ist wie in Bosnien-Herzegowina.

Vergangene Woche räumte der kroatische Premier Andrej Plenković ein, dass er mit Schmidt, der nur für die Umsetzung des Friedensvertrags von Dayton, also für Bosnien-Herzegowina und nicht für Kroatien zuständig ist, über das Wahlgesetz in Bosnien-Herzegowina lange Zeit Gespräche geführt hat. Die Einmischung Kroatiens wird in Bosnien-Herzegowina von vielen Bürgerinnen und Bürgern deshalb als bedrohlich erachtet, weil Kroatien und Serbien während des Bosnienkriegs versuchten, das Land zu zerstören und untereinander aufzuteilen. Kroatien wird nicht als neutraler Akteur gesehen.

Die Jäger zählen

Der Vorschlag von Schmidt löste Ängste aus, dass der Einfluss von Kroatien noch größer werden könnte. In Anbetracht der Tatsache, dass Bosnien-Herzegowina ohnehin schon von Dodiks Separatismus bedroht ist und auch die HDZ, die mit Dodik verbündet ist, dauernd mit einer verfassungswidrigen Schaffung eines dritten Landesteils droht, haben Beunruhigung und Erhitzung der Gemüter durch Schmidts Vorschlag noch zugenommen. Zudem gab es Aussagen von bosniakischen Politikern, die die Erregung noch verstärkten. So meinte etwa der Chef der SDA, Bakir Izetbegović, man werde nun alle Leute, die Waffen haben, zählen, etwa auch die Jäger, was als Säbelrasseln und Kriegsrhetorik gewertet wurde.

Bakir Izetbegović wird vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan unterstützt.
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Izetbegović, der vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan unterstützt wird – dieser besuchte im Wahlkampf Bosnien-Herzegowina –, tritt zur Wahl des Staatspräsidiums an. Seine SDA, die wohl auch von Erdoğan finanziell unterstützt wird, hat bei vergangenen Wahlen verloren, nicht nur weil sie als korrupt gilt, sondern auch weil die Führungsriege unbeliebt ist – allen voran Izetbegovićs Ehefrau, Sebija Izetbegović, die als besonders autoritär verschrien ist.

Forderung nach mehr Rechtsstaatlichkeit

Auch der Chef des Nachrichtendienstes OSA, Osman Mehmedagić Osmica, gegen den kurzfristig wegen Amtsmissbrauchs, Urkundenfälschung und Geldwäsche ermittelt wurde, steht im Dunstkreis von Izetbegović. Die Affäre zeigte einmal mehr, wie dringend Bosnien-Herzegowina mehr Rechtsstaatlichkeit und eine unabhängige Justiz bräuchte, was im Übrigen auch eines der zentralen Anliegen der Bürger und Bürgerinnen im Wahlkampf war.

Als bosniakischer Kandidat für das Staatspräsidium kandidiert auch der Sozialdemokrat Denis Bećirović, der allerdings bei seinen Auftritten nicht durchgehend überzeugte. Manche seiner potenziellen Wähler könnten sich daher für den kroatischen Kandidaten Željko Komšić entscheiden, obwohl dieser weniger links positioniert ist als Bećirović.

Juden werden diskriminiert

Ins Staatspräsidium können zurzeit nur Bosnier und Bosnierinnen gewählt werden, die sich als Bosniaken, Kroaten oder Serben bezeichnen, nicht aber andere Bürger und Bürgerinnen, die ethnische Zuschreibungen ablehnen oder die zu den Minderheiten, etwa den Roma oder Juden, gehören. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seit 2009 in zahlreichen Urteilen eine Änderung der Verfassung gefordert, weil die jetzige Verfassung zigtausende Bosnier und Bosnierinnen diskriminiert. Doch geschehen ist bisher nichts.

Deswegen ist vor allem die Wahl des Staatspräsidiums hochumstritten. Die drei Mitglieder im Staatspräsidium sind keine Vertreter von Volksgruppen, sondern sollen den Gesamtstaat und damit alle Bürger repräsentieren. Trotzdem versuchte die kroatisch-nationalistische HDZ mit Unterstützung von Kroatien und mithilfe der EU, das Wahlgesetz so zu verändern, dass künftig nur mehr ein Kandidat der HDZ die Wahl des kroatischen Mitglieds gewinnen sollte. Weil es dafür im Parlament aber keine Mehrheiten gibt, wurde das Vorhaben – trotz enormen Drucks auch seitens der EU – nicht umgesetzt.

Die Gruppe der nicht nationalistischen Bosnier

Auf der anderen Seite versuchen jene politischen Kräfte in Bosnien-Herzegowina, die für einen Bürgerstaat eintreten und für die es besonders wichtig ist, dass auch Nichtnationalisten ins Staatspräsidium gewählt werden können, dagegenzuhalten. Der nicht nationalistische Kroate Željko Komšić, der auch jetzt Teil des Staatspräsidiums ist, hat gute Chancen, zu gewinnen, weil er vor allem von jenen Bosniern und Bosnierinnen gewählt wird, die in ihm einen Verteidiger des Staates Bosnien-Herzegowina und des multikulturellen Zusammenlebens sehen. Gerade weil die Nationalisten so aggressiv gegen ihn argumentierten und die internationale Gemeinschaft sich in dieser Frage auf die Seite der kroatischen Nationalisten stellte, wurde Komšić noch populärer.

Der nicht natioanalistische Kroate Željko Komšić, der auch jetzt Teil des Staatspräsidiums ist, hat Siegeschancen.
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Komšić kommt die Stimmung entgegen. Denn tatsächlich ist der Staat Bosnien-Herzegowina von den nationalistisch-separatistischen Kräften massiv bedroht. Insbesondere die separatistisch-nationalistische SNSD von Milorad Dodik, die vom Kreml finanziert und gesteuert wird, versuchte seit vergangenem Jahr, auch mit rechtlichen Schritten die institutionelle und verfassungsmäßige Architektur des Staates zu zerstören. Das hat bei sehr vielen Bürgern und Bürgerinnen extreme Ängste – auch vor neuerlicher Gewalt – ausgelöst.

Gruppen statt Bürger

Die HDZ schickt als Kandidatin für das Staatspräsidium die Kandidatin Borjana Krišto ins Rennen, die allerdings wegen ihrer nationalistisch-kroatischen Ausrichtung wohl nur Stimmen von Kroaten und Kroatinnen in Bosnien-Herzegowina gewinnen kann – nicht so wie Komšić, der von allen möglichen Bosniern und Bosnierinnen gewählt wird.

Die Macht in Bosnien-Herzegowina ist wegen der Nachkriegsverfassung nach wie vor vor allem zwischen den drei dominanten Gruppen, aber nicht zwischen den Bürgern verteilt. Den Bürgerinnen und Bürgern sind vor allem ein besser funktionierendes Gesundheitssystem, Arbeitsplätze und der Kampf gegen Korruption ein Anliegen.

Die Wahlen in Bosnien-Herzegowina sind überwiegend frei und fair. Anders als im autokratisch regierten Nachbarstaat Serbien gibt es in Bosnien-Herzegowina mehr Medienfreiheit, Pluralismus und Demokratie – allerdings werden die Menschen durch die Nachkriegsverfassung eher auseinanderdividiert und die Extreme verstärkt.

Integritätspaket

Es gibt deshalb auch Erwägungen, dass die Wahl auf der Ebene der Gebietskörperschaften von jener auf der Staatsebene entkoppelt werden sollte, was die Verschränkung aller politischen Ebenen minimieren würde. Der Hohe Repräsentant Schmidt hat neun Wochen vor den Wahlen ein Integritätspaket – aufgrund von Vorschlägen internationaler Organisationen und lokaler NGOs – verabschiedet, das den Wahlprozess transparenter machen soll. Es ist allerdings unklar, ob alle diese Maßnahmen auch schon bei dieser Wahl umgesetzt werden können. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 2.10.2022)