Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik schreibt in seinem Gastkommentar über die Aufgaben des Bundespräsidenten und die Zurückhaltung der bisherigen Amtsinhaber.

Wer über das Amt des österreichischen Bundespräsidenten schreibt, kommt selten ohne die Wortfolge "auf dem Papier" aus. Tatsächlich räumt die Bundesverfassung dem Bundespräsidenten sehr viel Macht ein: Er oder sie ernennt die Mitglieder der Bundesregierung, kann Kanzler und Regierung jederzeit entlassen und auf Vorschlag der Bundesregierung Nationalrat und (unter Mitwirkung des Bundesrates) Landtage auflösen. Das Staatsoberhaupt beurkundet außerdem das verfassungsgemäße Zustandekommen von Gesetzen, schließt Staatsverträge ab, ernennt Beamte, Richterinnen und Staatsanwälte und exekutiert, wenn nötig, Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs.

Illustration: Fatih Aydogdu

"Auf dem Papier" existieren diese Befugnisse, weil die bisherigen Amtsinhaber starke Zurückhaltung bei ihrer Anwendung an den Tag gelegt haben: Sie haben sich im sogenannten Rollenverzicht geübt. In der politischen Praxis der Zweiten Republik hat sich durch den Rollenverzicht der bisherigen Bundespräsidenten ein Primat des Parlaments etabliert: Regierungen werden auf Basis der Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat gebildet. Wesentlich ist hier die Rolle der politischen Parteien als Bindeglied: Das Vertrauen der Nationalratsmehrheit in die Regierung wird in aller Regel dadurch gesichert, dass Parteien, die zusammen eine solche Mehrheit stellen, die Mitglieder der Bundesregierung nominieren. Scheiden die von einer Partei nominierten Regierungsmitglieder aus, ist die parlamentarische Vertrauensbasis dahin, wie im Juni 2019 beim Misstrauensvotum gegen die Bundesregierung Kurz I sichtbar wurde.

Anders das Staatsoberhaupt: Während Parlamentsparteien nur dann Regierungen verlässlich stützen, wenn sie Regierungsmitglieder stellen, hängt das Vertrauen des Bundespräsidenten in die Bundesregierung nicht an der Beteiligung seiner (ehemaligen) Partei. Überhaupt akzeptiert das Staatsoberhaupt – wenn nötig unter stillem Protest wie Thomas Klestil im Jahr 2000 – die Bildung selbst ungeliebter Regierungen, solange sie vom Nationalrat toleriert werden. Ausnahmen bestätigen die Regel: so etwa die Weigerung Theodor Körners, 1953 ein Kabinett unter Beteiligung der FPÖ-Vorläuferpartei VdU zu ernennen.

Parteipolitisch neutral

Der Rollenverzicht und die damit (zumeist) einhergehende parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten in puncto Regierungszusammensetzung haben zur Folge, dass das – auf dem Papier semipräsidentielle – österreichische politische System in der Praxis wie ein rein parlamentarisches funktioniert: Die Regierung ist allein davon abhängig, dass ihr der Nationalrat nicht das Vertrauen versagt. Der demokratischen Legitimität der Nationalratsmehrheit wird somit Vorrang gegenüber jener des Bundespräsidenten eingeräumt. Die zur Mehrheitsfindung im Nationalrat meist nötige Koalitionsbildung entfaltet dadurch ihre machtbeschränkende Wirkung.

Einige der heuer zur Wahl stehenden Kandidaten für das Bundespräsidentenamt versprechen eine Abkehr von der Norm des Rollenverzichts, etwa durch die sofortige Entlassung der Bundesregierung. Das würde rasch einen Legitimitätskonflikt zwischen Nationalratsmehrheit und Bundespräsident produzieren, der einen Kreislauf der Instabilität nach sich ziehen kann: Der Bundespräsident könnte jede Regierung entlassen, selbst wenn sie auf einer soliden parlamentarischen Mehrheit fußt. Der Nationalrat wiederum könnte jeder vom Präsidenten eingesetzten Regierung das Vertrauen versagen.

Weitere Eskalationsstufen

Die Verfassung erlaubt sogar weitere Eskalationsstufen in dieser Auseinandersetzung. Doch anders als im politischen Alltag, wo das Primat des Parlaments gilt, sitzt im Krisenfall der Bundespräsident auf dem längeren Ast: Ihm reicht ein Vorschlag einer willfährigen Bundesregierung (die er bei Bedarf selbst ernennen kann), um die Auflösung des Nationalrats zu veranlassen. Umgekehrt jedoch sind die Hürden für eine Absetzung des Bundespräsidenten durch das Parlament sehr hoch: Auf Beschlüsse im Nationalrat (mit Zwei-Drittel-Erfordernis) und der Bundesversammlung (Nationalrat plus Bundesrat) folgt eine Volksabstimmung. Geht diese zugunsten des Bundespräsidenten aus, gilt dieser als wiedergewählt und der Nationalrat als aufgelöst.

Die politische Norm des Rollenverzichts hat eine derartige Eskalation bisher verhindert. Doch nichts in der Verfassung zwingt zukünftige Staatsoberhäupter dazu, an dieser Konvention festzuhalten. Das fragile Wesen politischer Normen besteht nun einmal darin, dass sie nur gelten, solange alle relevanten Akteure sie befolgen.

Und in einigen Fällen haben die letzten drei Amtsinhaber schon gezeigt, dass sie gewillt sind, von bisherigen Konventionen abzuweichen: Thomas Klestil etwa lehnte im Jahr 2000 zwei von der FPÖ für Ministerämter nominierte Personen ab; Heinz Fischer verweigerte 2008 erstmals die Beurkundung eines offensichtlich verfassungswidrigen Gesetzes; und Alexander Van der Bellen wartete mit der Unterzeichnung des 2018 vom Parlament abgesegneten Ceta-Handelsabkommens einige Monate, bis eine Prüfung durch den Europäischen Gerichtshof erfolgt war.

Machtbeschränkend wirken

Nichts davon hob die Republik aus den Angeln, aber diese Beispiele zeigen, dass auch andere Normen, die bisher machtbeschränkend gewirkt haben, einmal fallen können – vor allem, wenn Personen ins höchste Staatsamt gelangen sollten, die weniger stark in den politischen Traditionen der Zweiten Republik verhaftet sind als die bisherigen Amtsinhaber. Die Erosion der einstigen Großparteien und das Erstarken neuer politischer Kräfte erhöhen die Chancen darauf beträchtlich.

Vor diesem Hintergrund ist es ratsam, sich zu überlegen, ob ein Staatsoberhaupt tatsächlich das Recht haben sollte, ohne große formale Hürden den Nationalrat aufzulösen. Ebenso sollten die Kompetenzen des Präsidenten bei Beurkundung beziehungsweise Abschluss von im Parlament beschlossenen Gesetzen und Staatsverträgen präzisiert werden. Sich darauf zu verlassen, dass Personen, die diese Rechte zum Schaden der Republik missbrauchen würden, bei Wahlen auf ewig den Kürzeren ziehen werden, ist jedenfalls zu wenig. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 1.10.2022)