Im Jänner 2020 wurden die Zeiger der "Doomsday Clock" der Zeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists auf 100 Sekunden vor Mitternacht gestellt, so nah zum Weltuntergang wie nie zuvor. Nun könnten die Zeiger noch weiterrücken: Mir der Annexion von vier ganz oder teilweise besetzten ukrainischen Provinzen durch Russland ist ein Atomkrieg etwas wahrscheinlicher geworden.

Seit der Atomexplosion über der japanischen Stadt Nagasaki am 9. August 1945 gab es keinen militärischen Einsatz von Kernwaffen. Nun droht Russland offen damit, dieses Tabu zu brechen.
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Durch die Scheinreferenden schuf Präsident Wladimir Putin die rechtliche Grundlage für den Einsatz von Kernwaffen: Nach der Eingliederung jener Provinzen in die Russische Föderation kann er nun behaupten, dass die ukrainische Armee durch ihren Widerstand die territoriale Integrität Russlands bedroht. Und dies, so Putin in seiner Rede vom 21. September, legitimiere die Verwendung "aller uns zur Verfügung stehenden Mittel". Aus einem brutalen Angriffskrieg wird so aus russischer Sicht ein Verteidigungskrieg.

Noch setzen Politiker und Experten im Westen darauf, dass Putin ein Stück Vernunft behält und keinen Schritt setzt, der in einen globalen Atomkrieg münden könnte. Aber das könnte sich ändern, wenn seine Armee in der Ukraine weitere Gebiete verliert und der Krieg verloren zu gehen droht. Bisher hat Putin auf jeden Rückschlag mit einer weiteren Eskalation reagiert. Die letzte Eskalationsstufe wäre der Druck auf den Nuklearknopf.

Einsatz ohne großen Wert

Was Russland damit gewinnen könnte, ist unklar. Die Drohung mit dem Atomschlag soll den Westen davon abhalten, die Ukraine weiterhin zu unterstützen. Aber die Umsetzung der Drohung hätte womöglich den gegenteiligen Effekt. Und militärisch wären auch die kleinsten taktischen Atomwaffen auf dem Schlachtfeld ohne großen Wert und würden zudem Gebiete verseuchen, die Russland für sich beansprucht. Auf dem Papier könnte Putin einen solchen Befehl – anders als der US-Präsident – nicht allein geben; er braucht laut der offiziellen Befehlskette zumindest die Beteiligung des Verteidigungsministers und des Generalstabschefs.

Dennoch bleibt es vorstellbar, dass ein Putin in Bedrängnis alles auf eine Karte setzt. Die militärische Lage in der Ukraine bleibt für die russische Armee brenzlig, und eine totale Niederlage wäre für die großrussischen Ideologen eine nationale Katastrophe – und würde auch Putins Herrschaft bedrohen. Dass Menschenleben für ihn und seine Clique wenig zählen, beweisen sie Tag für Tag. Den Atomkrieg zu riskieren, wenn alle Drohungen nichts nutzen, passt in diese Mentalität. Internationale Verurteilungen würden sie in Kauf nehmen.

Die potenziellen Szenarien reichen von einer reinen Warnexplosion über dem Schwarzen Meer, einem Einsatz gegen militärisch relevante Infrastruktur in der Ukraine bis hin zu einem Terrorangriff auf eine mittelgroße ukrainische Stadt. Wie unvermittelt solch ein Angriff kommen könnte, hängt von einigen Faktoren ab. Prinzipiell sind die meisten Bomber und Raketenwerfer, die in der Ukraine eingesetzt werden, auch für die Bestückung mit atomaren Sprengköpfen geeignet. Strategische, extrem starke Atomwaffen, die für einen potenziellen Vergeltungsschlag in Raketensilos, Bombern oder U-Booten auf ihren Einsatz warten, sind binnen Minuten startbereit. Kaum jemand rechnet aber mit ihrem Einsatz zu Beginn eines Krieges.

Karte im Verhandlungspoker

Schwächere, taktische Atomwaffen müssten hingegen erst "aus den Bunkern geholt, verfrachtet und einsatzbereit gemacht werden", sagt Hans Kristensen, Direktor des Nuclear Information Project, dem STANDARD. "Das dürfte Tage dauern." Das böte US-Geheimdiensten die Chance, diese Bewegungen rechtzeitig zu erkennen. Das könnte sogar im Sinne der Russen sein, um Verhandlungsdruck weiter aufzubauen, sagt Kristensen.

Vieles an der aktuellen Situation erinnert jedenfalls an die schlimmste Zeit des Kalten Krieges, als nur die Aussicht auf eine gegenseitige Vernichtung – auf Englisch "mutual assured destruction" (MAD) – den totalen Atomkrieg verhinderte. Laufend behandelten Militärstrategen mithilfe spieltheoretischer Modelle die Frage, wie sich diese Abschreckung aufrechterhalten lässt, wenn die politische Lage oder die Technologie sich ändert. Entscheidend war dabei stets die Zweitschlagkapazität: Werden die USA mit Atomwaffen angegriffen, hätten sie immer noch das Arsenal, um vernichtende Rache zu üben.

Glaubwürdigkeitsproblem

Ein Problem dabei war die Glaubwürdigkeit des Gegenschlags bei einem begrenzten Erstschlag, etwa gegen rein europäische Ziele: Würde ein amerikanischer Präsident die Zerstörung New Yorks riskieren, um die Vernichtung von Hamburg zu rächen? Das war das Hauptmotiv für den Nato-Doppelbeschluss von 1979: Als Moskau begann, Mittelstreckenraketen aufzustellen, die gegen europäische Ziele gerichtet waren, wuchs die Überzeugung, dass es strategische Atomwaffen mit Vernichtungspotenzial nicht nur in den USA, sondern auch in Europa geben müsste.

Dieses Glaubwürdigkeitsproblem stellt sich nun auch im Ukraine-Krieg: Würde die Nato nach einem Erstschlag Putins tatsächlich ihre Atomwaffen zur Verteidigung eines Nicht-Nato-Mitglieds einsetzen – oder doch lieber alles tun, um den Atomkrieg zu verhindern?

Es gibt eine dritte Möglichkeit. Eine nukleare Antwort der Nato habe wenig Sinn, weil sie keine zusätzlichen Optionen liefere und insgesamt den Einsatz von Atomwaffen legitimiere, sagt Kristensen. Wahrscheinlicher sei eine totale wirtschaftliche Isolation mit den schärfstmöglichen Sanktionen, massive Cyberattacken oder ein Eingreifen konventioneller Nato-Truppen in der Ukraine.

Medwedew droht mit "Apokalypse"

Doch würde Russland dann den Atomkrieg auf Ziele im Westen ausdehnen? Das hat zumindest Ex-Präsident Dmitri Medwedew, seit Kriegsbeginn der nukleare Scharfmacher in Moskau, angedeutet. Ein militärisches Eingreifen der Nato sei so gut wie ausgeschlossen, denn schließlich würden die "Demagogen jenseits des Ozeans und in Europa" doch nicht in einer "atomaren Apokalypse" sterben wollen. Als "russischen Weg" bezeichnet Kristensen diese Drohgebärden.

Washington bemüht sich jedenfalls, der russischen Seite den Ernst der Lage in diesem Fall klarzumachen. In Reaktion auf Putins nukleare Drohung hätten US-Vertreter dem Kreml vergangene Woche präzise mitgeteilt, was Russland keinesfalls tun dürfe, berichteten mehrere US-Medien.

Ein Teil der US-Strategie ist es, zwar von "katastrophalen Konsequenzen" zu sprechen, aber sie nicht im Detail auszusprechen und öffentlich keine roten Linien zu ziehen. Journalisten sollten auch nicht ständig nach dem "exakten" Plan fragen, schrieb Atlantic-Journalist Tom Nichols in seinem Newsletter. Denn die nukleare Abschreckung lebe zu einem großen Teil genau von dieser Unsicherheit.

Konventionelle Abschreckung

Indem die USA auf nukleare Drohungen verzichten, kann Putin diese auch nicht als Vorwand für einen Atomwaffeneinsatz verwenden. Sollte er einen solchen befehlen, wäre auch der russischen Bevölkerung klar, von wem die Eskalation ausgegangen ist. Und angesichts der offensichtlichen Schwäche der russischen Armee, die auch durch die Mobilisierung kaum an Kampfkraft gewinnen wird, sollte die Drohung, dass die Nato ihre geballte konventionelle Macht zum Einsatz brächte, als Abschreckung ausreichen, sagen Experten.

Dennoch wäre ein russischer Einsatz selbst der kleinsten taktischen Atomwaffe ein Schreckensszenario. Er würde ein Tabu brechen, das seit den US-Abwürfen über Hiroshima und Nagasaki vor 77 Jahren in Kraft war. Das Überschreiten dieser Linie könnte auch anderswo den Griff zur Kernwaffe fördern.

"Illegal und dumm"

Die theoretisch stärkste Form der Abschreckung wäre es, wenn die Ukraine selbst Atomwaffen hätte und direkt Vergeltung üben könnte. Kiew hat seine von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen im Budapester Memorandum 1994 für das Versprechen der Wahrung seiner Grenzen abgegeben.

Aber eine nukleare Wiederbewaffnung Kiews durch den Westen wäre brandgefährlich und völlig unrealistisch, sagt Kristensen. Es sei technisch kompliziert, Russland würde es wohl merken und dann präventiv zuschlagen. Und es wäre ein totaler Bruch mit der internationalen Verpflichtung zur Nichtverbreitung von Atomwaffen im NPT-Vertrag. Das wäre bloß "illegal und dumm", sagt Kristensen. (Eric Frey, Fabian Sommavilla, 1.10.2022)