Juliette Binoche gibt sich in Emmanuel Carrères "Wie im echten Leben" als Putzfrau aus.

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Eineinhalb Minuten, um ein Bett zu machen, das ist wirklich wenig Zeit. Zumal, wenn es sich um ein Stockbett handelt und vierzig weitere folgen, was den Job zum Belastungstest macht. Die Reinigungskräfte im Hafen von Ouistreham (so der Originaltitel) in der Normandie arbeiten auf Fähren unter extremen Zeitdruck. Noch in der Nacht würden die Arme im Schlaf aufgrund der monotonen Bewegungen weiter zucken, sagt die Putzfrau Marianne.

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Marianne hält fest, was sie sieht und tut. Sie ist eigentlich Schriftstellerin, die ein Buch über jenen Sektor in der Dienstleistungsgesellschaft schreibt, der im Frankreich unter Emmanuel Macron nicht eben kleiner wurde. Um ihren Recherchen authentischen Charakter zu verleihen, schleust sie sich undercover in die deregulierten Arbeitswelten ein. Sie will sich der Perspektive der Frauen angleichen, was auch bedeutet, dass sie unter falschen Flagge operiert.

Reibungen der Darstellerinnen

Wie im echten Leben unterstreicht dieses Manöver mit seiner Besetzung: Marianne wird von der Staraktrice Juliette Binoche mit leichter Zurückhaltung gespielt, ihre Koarbeiterinnen sind alle Amateurinnen. Eine der großen Qualitäten des Films ist es, dass er diese Reibung in der Darstellung nicht zudecken, sondern bewusst bedienen will.

Hélène Lambert sieht man als Chrystèle, die zu Mariannes "Heldin" wird, etwa schon an ihrer kampfbereiten Boxerinnenhaltung an, was ihr Körper alles erfahren hat. Gerade deshalb wirkt sie ungleich verletzlicher als ihr neues Gegenüber. Der Film erzählt von ihrer wachsenden Freundschaft, und er nimmt sich neben der Akkordarbeit auch Zeit für die Zwischenräume – die Allianzen, die beim Bowling, beim Trinken auf dem Parkplatz oder einem Strandausflug entstehen.

Carrères Zugriff auf reale Fälle

Inszeniert wurde Wie im echten Leben von Emmanuel Carrère, dem bekannten Schriftsteller, der sich in seinen Büchern (zuletzt Yoga) stets realen Fällen widmet und dabei seine Position als Autor herausstreicht. Indem er nun den Bestseller Putze! Mein Leben im Dreck von Florence Aubanas zu einem Spielfilm verdichtet, dreht er seine Suche nach Wahrhaftigkeit um ein Rad weiter.

Wie im echten Leben bleibt ambivalent: Er behandelt Arbeitsbedingungen und problematisiert den Blick darauf. Und er zieht soziale Trennlinien ein: In jeder Tarnung liegt ein Moment des Betrugs. (Dominik Kamalzadeh, 1.10.2022)