230 Aufgriffe binnen eines halben Tages. 230 Menschen, die versuchten, illegal in die EU einzureisen. Das war die Zwischenbilanz nach nur zwölf Stunden, in denen die tschechischen Behörden verschärft an der Grenze zur Slowakei kontrollierten. Die grenzpolizeiliche Suche nach Menschen ohne Aufenthaltsrecht in der EU startete in Tschechien am vergangenen Donnerstag um Mitternacht, zeitgleich begannen auch die Kontrollen der Österreicher an den Grenzübergängen zur Slowakei.

Viele kommen aus Indien über Serbien, wohin sie visumsfrei reisen können, in die EU

Auf beiden Seiten wurden überwiegend Männer aus den Fahrzeugen geholt. Viele kamen aus Indien, manche aus Tunesien oder anderen nordafrikanischen Staaten – aber auch Menschen aus Staaten wie Syrien und Afghanistan waren darunter. In die EU waren die meisten über Serbien gekommen, wohin sie visumsfrei reisen können; per Flugzeug, etwa aus Istanbul, oder auch mit Transit in großen Airport-Hubs innerhalb der Union – und dann weiter in die EU, wo sie eigentlich ein Visum brauchen, über Rumänien und Ungarn in die Slowakei (siehe Grafik).

Tatsächlich ist die serbische Hauptstadt Belgrad seit Monaten ein Haupteinfallstor für die illegale Einreise von Drittstaatsangehörigen in die EU. Besser gesagt: von Menschen aus bestimmten Ländern. Die Gründe dafür liegen in der Kosovo-Politik Serbiens. Wer brav serbischen Interessen folgt, wird belohnt. Konkret erhalten in Belgrad vor allem Angehörige jener Staaten Visumsfreiheit, die den Kosovo nicht anerkennen.

Serbien belohnt Wohlverhalten

Diese Praxis existiert schon länger. Im August 2017 beschloss Belgrad, die Visumpflicht für Iranerinnen und Iraner abzuschaffen, wohl auch, weil dieses Land die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennt. In der Folge landeten tausende Iraner auf dem Flughafen in Belgrad, reisten weiter zur ungarischen Grenze. Viele schafften es, irgendwie über den Zaun zu klettern. Einige EU-Staaten, auch Österreich, legten Protest ein. Ein Jahr später musste Serbien zurückrudern und die Visumfreiheit für iranische Staatsbürger wieder aufheben. Eine ähnliche Politik verfolgt Serbien mit anderen Ländern, etwa mit Indien. Präsident Aleksandar Vučić besuchte Indien Anfang 2017. Kurze Zeit später, im August 2017, unterschrieb "seine" Premierministerin Ana Brnabić einen Regierungserlass, wonach indische Staatsbürger für einen Aufenthalt von 30 Tagen in Serbien keines Visums mehr bedürfen. Vorher galt für sie Visumpflicht. Die Besucherzahl von Indern in Serbien stieg in der Folge rasant an. Allein im August 2021 wurden 50.000 Übernachtungen von Indern in Serbien verzeichnet.

Ein Viertel der Anträge von Indern

Auch Österreich hat inzwischen verstärkt mit indischen Migranten zu tun. Ein Viertel aller Asylantragsteller stammte heuer bisher aus dem südasiatischen Land, und zwar überwiegend aus dem Bundesstaat Punjab. Auch sie waren mit dem Flugzeug nach Belgrad geflogen und schafften es von dort mithilfe von Schleppern bis ins Burgenland oder nach Niederösterreich.

Aussicht auf Schutz haben sie im Unterschied etwa zu Syrern und Afghanen nur im Ausnahmefall. Die Anerkennungsquote für Inder aus dem Punjab liegt bei unter einem Prozent. Der Sinn ihres Asylantrags ist aber auch ein anderer. Sie ersuchen um Schutz, um Österreich nicht gleich wieder verlassen zu müssen. In der EU suchen sie Jobs, etwa als Schwarzarbeiter in der italienischen, französischen oder spanischen Agrarindustrie.

Dort werden Arbeitskräfte gesucht, doch legale Wege in die EU gibt es für schlecht oder mittel qualifizierte Drittstaatsangehörige nicht. In einem Positionspapier aus dem Jahr 2020 fordert die Internationale Organisation für Migration (IOM) daher, neben qualifizierten Personen auch weniger gut ausgebildeten Menschen Visachancen in der EU einzuräumen.

Das jedoch ist Zukunftsmusik und politisch derzeit nicht umsetzbar. Daher konzentrieren sich die Bemühungen der Union darauf, von Serbien zu fordern, die Visumfreiheit für indische und andere Staatsbürger wieder abzuschaffen. Doch Serbien ist bis dato bei seiner Politik geblieben. Wegen des Kosovo.

Dieser hatte sich 2008 für unabhängig erklärt, doch Serbien hatte das nicht anerkannt. Das hängt mit der Geschichte des Kosovo in jugoslawischen Zeiten zusammen. Zwar war der Kosovo laut der jugoslawischen Verfassung von 1974 eine autonome Provinz, die den sechs Republiken des sozialistischen Staates fast gleichgestellt war. Doch unter dem Präsidenten Serbiens und später Jugoslawiens Slobodan Milošević wurde die Autonomie wieder aufgehoben. Zwischen 1989 und 1998 kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen, vor allem gegenüber Albanern. Auch nicht regimetreue Serben waren massiven Repressionen ausgesetzt.

2010 stellte der Internationale Gerichtshof (IGH) fest, dass die kosovarische Unabhängigkeitserklärung nicht im Widerspruch zum Völkerrecht steht. Dennoch versucht Serbien seither, die Unabhängigkeit des Kosovo zu bekämpfen. Unterstützung erhält Belgrad dabei von Russland.

Eines der eingesetzten Mittel ist die serbische Visumpolitik. So dürfen Bürger aus manchen Ländern, die den Kosovo als Staat anerkannt haben, nicht visumfrei nach Serbien einreisen. Aus Belgrader Sicht sollen sie damit offenbar bestraft werden.

Vom EU-Beitritt weit entfernt

Das betrifft auch Menschen aus Ländern, die ohne Schengen-Visum in die EU einreisen dürfen: Brunei etwa sowie El Salvador, Honduras, Kiribati, Malaysia, die Marschall-Inseln, Mikronesien, Panama, Samoa, Saint Lucia, die Solomon-Inseln, Timor-Leste, Twain, Tuvalu, Vanuatu und Venezuela. Serbien als EU-Kandidatenstaat tut diese Praxis keinen guten Dienst, denn eigentlich sollte das Land seine Außen- und Visumpolitik an jene der EU angleichen. Doch das geschieht nicht, wie zuletzt auch im Fall der Russland-Sanktionen zu beobachten war. Überhaupt hat das Land trotz jahrelanger Verhandlungen mit Brüssel kaum Reformen unternommen, um tatsächlich ein Teil der Europäischen Union zu werden.

Weit gastfreundlicher zeigt sich Belgrad hingegen gegenüber Bürgern von Staaten, die den Kosovo nicht anerkannt haben. Sie dürfen nach Serbien visumfrei einreisen, obwohl dieser Umstand im Gegensatz zu den Regeln der EU steht. Armenien und Aserbaidschan gehören zu diesen Staaten, ebenso Belarus, Bolivien, Kuba, Indien, Indonesien, Jamaika, Kasachstan, Kirgistan, die Mongolei, der Oman, Katar, Russland und Tunesien.

Druck auf Aberkennung

Doch Belgrad verfolgt auch noch ein weiteres Ziel. Länder, die den Kosovo als Staat akzeptiert haben, sollen davon wieder abgebracht werden. In zwei Fällen hat das funktioniert. Der südamerikanische Staat Suriname zog die Anerkennung 2017 zurück. Seine Bürgerinnen und Bürger dürfen wieder visumfrei nach Serbien reisen. Auch Guinea-Bissau machte 2017 einen solchen Rückzieher. Menschen aus dem westafrikanischen Land können Belgrad als Touristen besuchen.

Doch warum gelangen in den vergangenen Monaten so besonders viele Migranten über Serbien in die EU, seien sie aus Indien oder anderen Staaten? Mancherorts wird vermutet, dass das mit den engen Verbindungen Serbiens zu Russland zu tun haben kann. Tatsächlich setzt der Kreml die Migrationspolitik ja als politische Waffe ein. Länder wie etwa Polen werden durch eine große Zahl von Asylsuchenden aus arabischen Staaten, die über Belarus ins Land kommen, unter Druck gesetzt.

Was indische Migranten angeht, gibt es vielleicht noch einen weiteren Grund: Neben China hat in den vergangenen Jahren auch Indien stark in Serbiens Wirtschaft investiert. In Belgrad revanchiert man sich dafür mit positiver Berichterstattung in serbischen Medien. "Sonderbeilagen erscheinen in namhaften lokalen Tageszeitungen und Wirtschaftsmagazinen", ist etwa lobend auf der Homepage der indischen Botschaft zu lesen.

Positiv wird hier auch erwähnt, dass Serbien Indiens UN-Resolutionen sowie seine Initiative unterstützt, den 21. Juni zum internationalen Yoga-Tag zu erklären. (Irene Brickner und Adelheid Wölfl, 2.10.2022)