Durch Bolsonaros Erlass zur Lockerung der Regeln für Waffenscheine hat sich die Zahl der registrierten Waffenbesitzer in Brasilien verdreifacht.

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Brasilien wählt am Sonntag eine Präsidentin oder einen Präsidenten. Die Wahl einer Präsidentin ist dabei aber fast ausgeschlossen. Denn für acht der zehn Kandidatinnen und Kandidaten ist kaum Platz im politischen Diskurs. Zu stark ist die Polarisierung zwischen dem ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, meist nur Lula genannt, und dem Amtsinhaber Jair Bolsonaro. Lulas Arbeiterpartei belegt das linke und Bolsonaros Partido Liberal (PL) das rechts außen liegende Feld. Die starke Spaltung der Wählerschaft sorgt nicht nur dafür, dass Lula in den jüngsten Umfragen 50 Prozent der Stimmen und Bolsonaro 36 Prozent der Stimmen vorausgesagt werden. Sie sorgen auch für verstärkte Gewalt.

DER STANDARD

In Cascavel – eine mittelgroße Stadt im Nordosten von Brasilien – ist am Montag laut Medienberichten ein Mann in eine Bar gegangen und hat gefragt, ob einer der Anwesenden Lula unterstütze. Der Barmanager Antônio Carlos Silva de Lima meldete sich und sagte, dass er für den ehemaligen Gewerkschaftsführer stimmen würde. Nach einem darauffolgenden Streit habe der Mann Silva de Lima ein Messer in den Rücken gerammt. Der Barmanager wurde sofort in ein Krankenhaus gebracht, überlebte die Verletzung aber nicht.

Der mutmaßliche Angreifer wurde festgenommen, behauptete, dass er zuvor vom Opfer angegriffen worden sei. Zudem wies er jegliche politische Motivation von sich. Doch laut Anklägerseite widersprechen fünf Zeugenaussagen seiner Darstellung. Falls sich die derzeitigen Berichte bewahrheiten, wäre es der vierte politisch motivierte Mord während des diesjährigen Präsidentschaftswahlkampfes in Brasilien.

67 Prozent haben Angst vor politischer Gewalt

Die Morde sind die drastischsten Beispiele der steigenden Gewalt im südamerikanischen Land. In der Mehrzahl der Fälle sind die Täter Anhänger des derzeitigen Präsidenten, Bolsonaro. Doch vergangenen Samstag erstach ein Lula-Unterstützer einen Bolsonaro-Wähler im Süden des Landes. Die beiden waren laut Polizei zunächst in eine heftige politische Diskussion geraten.

Die Beobachtungsstelle für Gewalt in der Politik an der Universität von Rio de Janeiro hat von Januar bis Juni diesen Jahres 214 Akte von Drohungen und Gewalt gegen politisch engagierte Personen oder deren Angehörigen verzeichnet. Solche Fälle sind seit dem letzten Wahljahr 2020 um mehr als 20 Prozent gestiegen. Einer Umfrage vom Wahlinstitut "Datafolha" zufolge haben 67 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer Angst Opfer von politisch motivierter Gewalt zu werden.

"Diese ideologisch motivierte Gewalt hat im Präsidentschaftskampf in Brasilien zugenommen", sagt Mayra Goulart, Professorin für Politikwissenschaften an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (UFRRJ) im Gespräch mit dem STANDARD. "Das liegt auch daran, dass ein Kandidat der extremen Rechten gewählt wurde, der Gewalt als politische Handlungsform anerkennt." Gefragt nach seiner Sicht auf den Mord eines seiner Anhänger an einem Lula-Wähler Anfang Juli, sagte Bolsonaro, dass er den Fall bedauere. Aber er klagte über die Berichterstattung, die ihm dafür die Schuld in die Schuhe schieben wolle.

Neue Bewaffnete

"Wir werden die PT-Anhänger alle exekutieren", sagte damals noch Kandidat Bolsonaro bei einer Wahlveranstaltung im Amazonasgebiet im Jahr 2018. Im September letzten Jahres sagte der Ex-Militärhauptmann und Präsident, dass die einzigen drei möglichen Wahlausgänge für ihn eine Festnahme, der Tod, oder der Sieg seien. Bei einer Veranstaltung im August 2021 sagte er "das bewaffnete Volk wird niemals versklavt werden".

Es sind solche radikalen Aussagen, die laut Goulart die Gewaltbereitschaft Bolsonaros extremster Unterstützer befeuern. Darunter sind auch viele neue Waffenbesitzer. 2019 lockerte Bolsonaro die Regeln für den Waffenbesitz und seitdem hat sich die Zahl der registrierten Waffenbesitzer im Land verdreifacht. Wie Deutschlands Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Merkel-Raute hat auch Bolsonaro ein Zeichen – die Fingerpistole.

Der vielgenützte Vergleich zwischen Bolsonaro und dem Waffenlobby-nahen, ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump ist auch Politikwissenschaftlerin Goulart geläufig. Sie unterstreicht aber einen bedeutenden Unterschied: "Die US-Amerikaner haben eine lange Tradition, Waffen zu tragen. Das Recht darauf steht in ihrer Verfassung", sagt die Professorin. "Bolsonaro bewaffnet eine Bevölkerung, für die das neu ist. Wir haben also viele Menschen, die erst seit Kurzem Gewehre besitzen, die sich berufen fühlen, zu diesen zu greifen, um die amtierende Regierung zu verteidigen." Eine solch gewaltfördernde Rhetorik gebe es weder bei den anderen Parteien, noch Kandidaten, meint Goulart.

Angesichts der Gefahr einer Eskalation während der Wahlen hat das Oberste Wahlgericht Zivilisten das Tragen von Waffen zwischen Samstag und Montag verboten. Am 9. September setzte der Richter des Obersten Gerichtshofs, der Supremo Tribunal Federal (STF), Edson Fachin Erlässe des Präsidenten vorübergehend aus, die den Kauf und das Tragen von Waffen erleichtert hatten. Auch Fachin begründete dies mit der Gefahr politischer Gewalt.

Keine registrierten Wahlbetrüge

Laut der Zeitung "Estadão" haben regierungsnahe Politiker parallel zu einem Aufruf des Präsidenten am 7. September Angriffe auf die STF propagiert, um sich gegen die "Willkür" der Mitglieder des Gerichtshofs zu wehren. Bei Bolsonaro selbst sind Angriffe auf die Institution, der auch der Wahlgerichtshof unterliegt, Routine. Bei der Eröffnung einer Straße im Juni sagte der Ex-Militär: "Wenn es sein muss, werden wir in den Krieg ziehen. Aber ich möchte ein Volk an meiner Seite haben, das weiß, was es tut und für wen es kämpft." Die Sager folgten der Behauptung, dass Mitglieder des Obersten Gerichtshof "Diebe" seien, die versuchen würden die Freiheit der Menschen zu stehlen. "Die Freiheit ist wichtiger als das Leben selbst, denn ein Mann oder eine Frau ohne Freiheit hat kein Leben", fügte der Präsident hinzu.

Im Juli diesen Jahres versammelte Bolsonaro mehrere Botschafterinnen und Botschafter, um ihnen – ohne Beweise zu präsentieren – zu zeigen, wie unzuverlässig das brasilianische Wahlsystem sei. Im September sagte er, wenn er nicht 60 Prozent der Stimmen erhalte, sei "etwas im Obersten Gerichtshof falsch gelaufen". Seit Einführung des elektronischen Wahlsystem im Jahr 1996 gab es keinen einzigen gemeldeten Fall von Wahlbetrug. Dennoch lenkte das Obsterste Gerichtshof auf Druck der Regierung ein. Somit wird das Militär zum ersten Mal die Wahlprotokolle überprüfen und Stichproben parallel zur Auszählung nehmen.

"Er lehnt die Idee der Gewaltenteilung ab", sagt Goulart über Bolsonaro, "allein die Vorstellung, dass die Streitkräfte die Transparenz bei den Wahlen gewährleisten müssen, ist bereits ein Beispiel dafür." Auf die Wahlen am Sonntag könnte im Fall, dass keiner der Kandidaten über 50 Prozent der Stimmen erreicht eine Stichwahl am 30. Oktober. Goulart befürchtet einen bewaffneten Aufstand, im Fall, dass Bolsonaro die Wahl verlieren sollte und sieht die Stichwahl als möglichen Scheidepunkt: "Die zweite Runde wird wahrscheinlich die interessantere und die gefährlichere." (Isadora Wallnöfer, 2.10.2022)