Eine lebensechte, computertgesteuerte Puppe wird bei einer Übung in Wien reanimiert. Das Team aus zwei Notärzten und einem Sanitäter bespricht nachher alles nach.

Foto: Christian Fischer

Vier Männer knien um den starren kleinen Körper. Einer von ihnen drückt kraftvoll und rhythmisch die Hände in den zarten Brustkorb. Ein Kollege in orange-blauer Uniform behält die Lebensfunktionen auf der Anzeige des Überwachungsmonitors und Defibrillators im Auge. Der Dritte packt die Ampulle für die Adrenalinspritze aus dem roten Notfallrucksack. Die drei arbeiten ruhig und konzentriert.

Daneben kauert ein Mann im blauen Baumwollshirt. Er schaut zu, wirkt nervös und fragt: "Wird er überleben?" Ja. Und nein. Der sechsjährige Bub, der mutmaßlich mit der Steckdose gespielt haben soll, ist nicht am Leben: Er ist aus Plastik. Das "Kinderzimmer", in dem der Patient leblos gefunden und reanimiert wurde, ist ein Übungsraum der Berufsrettung, der vermeintliche Vater des Verunfallten ein Trainer der Einsatzkräfte.

Das Trio wird den Herzschlag und die Atmung der computergesteuerten Puppe wiederherstellen. Es ist ein Vormittag im September, 27 Sanitäter und Notärzte der Berufsrettung Wien absolvieren eines ihrer regelmäßig vorgeschriebenen Pflichttrainings in der Zentrale in Wien-Landstraße.

Aufsehenerregende Vorfälle

In den vergangenen Monaten wurden immer wieder Vorfälle medial bekannt, bei denen Sanitäter lange auf das Eintreffen eines Notarztes warten mussten. Eine wesentliche Rolle in so einer Stresssituation spielt dann, wie gut die Sanitäter, die dort eintreffen, für die Notlage ausgebildet sind. Seien es Ehrenamtliche – die zahlenmäßig größte Gruppe – oder hauptberuflich Tätige. Weiters spielt dabei eine Rolle, wie schnell eine Notfallmedizinerin an Ort und Stelle sein kann. In der Steiermark ging es im Sommer so weit, dass zweimal während langen Wartens jemand starb. Im August schrie in Niederösterreich die Ärztekammer auf, es herrsche ein "eklatanter Notarztmangel".

Helmut Trimmel, Leiter der Sektion Notfallmedizin in der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (Ögari), appellierte daraufhin im STANDARD-Gespräch für eine differenziertere Sicht auf die Dinge: So brauche es zum Beispiel auch eine verbesserte Ausbildung der Leitstellenmitarbeiter, die die Notrufe annehmen und priorisieren, die also entscheiden, in welchen Fällen notärztliche Hilfe vonnöten ist. Eine von vielen weiteren Maßnahmen, die Trimmel fordert, wäre, die Aus- und Fortbildung der Rettungssanitäter und Notfallsanitäterinnen zu verbessern. Sanitäterinnen und Sanitäter müssen auf dem neuesten Stand bleiben und sich regelmäßig Prüfungen stellen.

20 Jahre altes Gesetz

Das Gesetz, das ihnen vorschreibt, dass sie im Zweijahresrhythmus mindestens 16 Stunden Weiterbildung absolvieren müssen, ist inzwischen aber 20 Jahre alt. "Sanis" verfügen über mindestens 260 Stunden Basisausbildung. Wer sich ganz intensiv weiterbilden will, kann auch die Ausbildung zur Notfallsanitäterin oder zum Notfallsanitäter (NFS) absolvieren. Dafür braucht es mindestens 360 weitere Stunden Ausbildung, auch mit Praxis im Spital. Zusätzlich können weitere Fähigkeiten erlernt werden: Arzneimittel zu verabreichen, einen Venenzugang zu legen oder zu intubieren. "Bei uns dürfen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter mit entsprechender Qualifikation zum Beispiel hochpotente Schmerzmittel verabreichen", sagt Mario Krammel, Chefarzt der Berufsrettung Wien.

Auch Adrenalin oder Amiodaron, Standardmedikamente bei Reanimationen, dürfen entsprechend geschulte Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter in Wien applizieren. Man habe das geltende Gesetz schon weitestgehend ausgereizt, sagt Krammel. Er sei gegen ein Paramedics-System ganz ohne Notärztinnen und Notärzte, aber das Sanitätergesetz müsse reformiert werden. "Höhere Qualifikation bedeutet mehr Sicherheit und mehr Flexibilität", unterstreicht denn auch der Leiter der Berufsrettung Wien, Rainer Gottwald. Allerdings hat die Rettung in Wien andere Voraussetzungen als in den anderen Bundesländern, wo viel mehr auf Ehrenamtliche gesetzt wird. Der Bund nimmt das Rettungswesen nun jedenfalls unter die Lupe: Bis Ende 2023 werden Kompetenzen und Ausbildung der Sanitäter evaluiert, heißt es im Gesundheitsministerium. Was nützt aber jede noch so gute Ausbildung, wenn sie nicht angeboten wird?

Ein Sanitäter aus Oberösterreich, der sich an den STANDARD gewandt hat, seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will, sagt, es seien in seinem Bezirk viel zu wenige Notfallsanitäter unterwegs. Er selbst bilde sich mangels Plätzen in seinem Bundesland nun in Wien weiter. Notfallsanitäterinnen haben viel mehr Kompetenzen als Rettungssanitäter, sind aber in den meisten Bundesländern in der Minderheit. Ein Überblick ist schwer zu bekommen: Jedes Bundesland organisiert sein Rettungswesen anders, und überall sind mehrere Träger (zum Beispiel Rotes Kreuz, Samariterbund) am Werk. Nicht einmal der Berufsverband Rettungsdienst (BVRD) verfügt – trotz Bemühungen – über einen Überblick, wie viele wie qualifizierte Sanitäterinnen und Sanitäter wo tätig sind.

Wien und Tirol gelten als Länder mit dem höchsten NFS-Anteil: Von den 870 Sanitäterinnen und Sanitätern der Berufsrettung Wien haben neun von zehn die NFS-Ausbildung. Von knapp 3.200 Personen, die 2021 in Tirol Sanitäterdienste versahen, waren es fast 80 Prozent.

Viel Nachholbedarf

Beim Roten Kreuz Oberösterreich hingegen verfügt nur ein Drittel der 600 beruflichen Mitarbeiter über die NFS-Ausbildung, von den 7200 Ehrenamtlichen nur 202.

19 Personen sind dabei, die Schulung zu machen, demnächst starten 47. Beim Roten Kreuz in Niederösterreich wird versucht aufzuholen: Etwa die Hälfte der mehr als 700 Hauptberuflichen sind NFS, aber nur knapp ein Viertel der 10.550 Ehrenamtlichen. 357 Personen machen aber die Ausbildung. Die hohe Zahl hänge damit zusammen, dass man "künftig jeden Rettungswagen mit mindestens einem NFS besetzen" wolle, erklärt das Rote Kreuz NÖ.

Zurück in den Übungsraum in Wien-Landstraße. Beim nächsten Training liegt eine Babypuppe im Strampler auf dem Boden. Sechs Monate altes Baby in den Pool gefallen, lautet die Info. Bei der Reanimation eines so kleinen Körpers wird kein Venenzugang gelegt, sondern am Schienbein zum Knochenmark gebohrt, um Medikamente zu spritzen. Etwas, das nach entsprechendem Training jeder könnte, meint Chefarzt Krammel. Aber es ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten. Noch. Mit den Daumen massiert ein Sanitäter das Herz des Babys. Wenig später zeigt die Puppe Herzschlag und Atmung an. Geschafft. (Gudrun Springer, 3.10.2022)