Im Lusail Stadium findet am 18. Dezember das WM-Finale statt. Dorthin ist es nicht nur für die 32 teilnehmenden Nationalmannschaften noch ein weiter Weg.

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Man solle sich Katar doch ansehen, sagen die Organisatoren der WM, das soll die "Irrtümer" ausräumen, über die man bereits so viel gelesen oder gar geschrieben hat. Nun gut. Ein Irrtum sei hiermit ausgeräumt: "Man gewöhnt sich an alles" ist ein wirklich blödes Sprichwort. Zugegeben, der dekorative Kran vor dem Hotelfenster fällt bald nicht mehr auf. Für den die ganze Nacht durchgehenden Baulärm gilt das aber nicht.

Doha hat es eilig. 48 Tage vor dem Eröffnungsspiel der Fußball-WM ist Katars Hauptstadt eine einzige Großbaustelle. Kaum ein Eck, wo nicht noch Wege hergerichtet werden, Straßen aufgerissen sind und halbfertige Gebäude grüßen. Kreisverkehre werden bepflanzt, Hochhausfenster geputzt, Barrieren auf Lkws herumchauffiert. Die geschundene österreichische Fanseele seufzt: Immerhin sind die Absperrungen rot-weiß-rot.

Hitze

Auf den Baustellen wird nicht nur wegen des Zeitdrucks durchgearbeitet. Nachtarbeit ist wegen der erträglicheren Temperaturen üblich. Beim STANDARD-Besuch Ende September brannte die unvermeidliche Sonne mittags bis zu 39 Grad auf den staubigen Asphalt, bei solchen Temperaturen ist Baubetrieb offiziell verboten. Die Lage der vorwiegend aus Südasien stammenden Bauarbeiter wird noch wesentlich ausführlicher Thema sein, zur Orientierung sei vorweggenommen: Sie arbeiten sechs Tage pro Woche zehn bis zwölf Stunden.

Baustellen sind in Doha allgegenwärtig.
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Das werde sich schon ausgehen, sagen jene, die die Mentalität des Landes kennen, man mache hier generell alles in letzter Minute. Und was nicht fertig wird, wird eben zugedeckt. Bei den Stadien wird das nicht nötig sein. Sieben der acht Prachtbauten stehen so nah beisammen, dass sie auf die Fläche Wiens passen würden, nur zum al-Bayt-Stadion in der Stadt Al-Khor im Norden des Landes fährt man etwas länger. Das klingt absurd; es zu erleben ist noch einmal absurder. Fährt man in Doha 20 Minuten mit dem Auto, kommt man höchstwahrscheinlich an einer Arena vorbei, die jeden österreichischen Fußballfan verzweifelt an Happel’sche Rasenlöcher denken lässt. Gut, das Grün im Finalstadion in Lusail ist noch eher ein Braun, aber man wird aufgeklärt, dass gerade von Sommer- auf Wintersaat gewechselt wurde.

Überall Schüsseln

Aber zurück zur Stadionfrequenz, umgelegt auf Wien: Stellen Sie sich vor, Sie landen am Flughafen Schwechat, der für dieses Gedankenexperiment näher an die Hauptstadt rückt. Beim Landeanflug sehen Sie schon die erste 40.000er-Schüssel, in der viertelstündigen Taxifahrt in die Innenstadt kommen Sie an der nächsten vorbei. Nach einem Snack wollen Sie in einen Park: wieder ein Stadion. Nun gut, ab nach Hause, sagen wir in eine Vorstadt. Nach einer Viertelstunde Fahrt steht die Stamford Bridge links der Straße, Sie fahren 13 Minuten weiter, rechts taucht der Basler St.-Jakobs-Park auf, den beachten Sie aber schon nicht mehr. Noch 20 Minuten Fahrt, und Sie sind endlich auf der Couch, durchs Fenster grinst Sie Real Madrids Estadio Santiago Bernabéu an.

Im al-Bayt-Stadion steigt am 20. November das Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador.
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Die Stadien sind architektonisch bemerkenswert: Das al-Bayt ist einem Beduinenzelt nachempfunden, das Lusail soll an eine Laterne erinnern, das al-Thumama-Stadion ist von der Kopfbedeckung Gahfiya inspiriert. Auch die Metrostationen sind etwa 1523 Ticks hübscher als die meisten ihrer Wiener Pendants. Katar will schick sein, koste es, was es wolle. Rund um die Flughafenautobahn ist der Rasen so übertrieben grün, dass man vor lauter Gedanken an den Wasserverbrauch fast die umliegende Wüste vergisst.

Katar ist Doha, Doha ist Katar

Turnier und Unterkünfte beschränken sich praktisch komplett auf Doha und die angrenzende, frisch gebaute Planstadt Lusail. Rund 80 Prozent der knapp drei Millionen Menschen in Katar leben in diesem Großraum. Hier sind die Gebäude sandfarben oder dunkel verglast, die Autos groß oder sehr groß und die Überwachungskameras überall. Trotzdem umkreist eine 20-Mann-Kamelpatrouille das Parlament unaufhörlich, in Katars Monarchie spielt es eine eher dekorative Rolle.

An der Ostküste dieser unscheinbaren Halbinsel am Persischen Golf gipfelt derzeit eine Entwicklung, die weltweit einzigartig ist. Vor hundert Jahren verdienten die Katarer ihr Geld als Perlentaucher, das lukrative Gas wird erst seit den 1990er-Jahren effektiv kommerzialisiert. Mit dem Palastputsch von Hamad bin Khalifa Al Thani begann 1995 die katarische Moderne. Riesige Infrastrukturprojekte, die Gründung von Al Jazeera, expansive Sportpolitik. Das Land entwickelt sich in einem Tempo, das man sich in Europa nicht vorstellen kann.

Prunk ohne Seele

Das gewaltigste Exponat der demonstrativen Baufreude heißt "The Pearl": eine künstliche Insel, deren Form an Muscheln samt Perlen erinnern soll. Es gibt ein Fake-Venedig und ein Fake-Andalusien, in dem die Häuser Casa 29, Casa 31 oder Casa 43 heißen. Die größeren Gebäude legen einen drauf: Tower 1, Tower 2, Tower 3. Sollte dieser Ort eine Seele haben, kann er sie sehr gut verstecken.

Palmen und Plastik.

In der Mittagshitze wirkt die Pearl wie ein Potemkin’sches Dorf. Die Yachthäfen sind ebenso menschenleer wie die Privatstrände, sogar die eisgekühlten Einkaufszentren sind wie ausgestorben. Hier wohnt zwar viel Geld, aber das schläft entweder noch oder verbringt seine Zeit lieber an lebenswerteren Orten. Dohas Geschäftszentrum ist da schon betriebsamer. Die West Bay ist ein Sammelsurium von Hochhäusern, Baustellen sieht man hier nur mehr vereinzelt. Wer abkassieren will, hat hier längst eine Dependance eröffnet: Der als Salt Bae berühmt gewordene türkische Fleischer Nusret Gökçe serviert Goldsteaks, die Galeries Lafayette locken mit fünfstelligen Schnäppchen.

Harry Kane und Sadio Mané schauen sich all das schon seit Wochen an. Jedes der 32 Teams kann einen Star nominieren, dem in Doha ein 23 Meter hohes Poster gewidmet wird, auch die WM-Trophäe frönt auf einer Hochhausflanke dem Gigantismus. Alles hier ist auf die WM getrimmt. Nicht jeder der nur 300.000 Katarer ist ein Fan des Gedankens, es könnten Horden potenziell betrunkener Fußballfans ins Land kommen, aber für den 2013 zum Emir aufgestiegenen Tamim bin Hamad Al Thani ist es eines der zentralen Projekte seines Schaffens.

Überwachung

Dazu gehört auch ein permanenter PR-Kampf, hauptsächlich beim Thema Arbeits- und Menschenrechte. Bei der vom Wiener Journalismusinstitut Fjum organisierten Recherchereise wäre die Journalistengruppe vergangene Woche in eines der Vorzeigelager der Arbeiter eingeladen worden, die weniger schönen Quartiere wollte das Organisationskomitee nicht herzeigen. Als die Gruppe auf eigene Faust durch eben diese fuhr, heftete sich ein weißer SUV ans Heck des Busses. Unauffälliges Observieren sieht anders aus, das war eine ungenierte Geste. Nach dem synchronen Einparken auf seine anschmiegsame Fahrweise angesprochen, meinte der mutmaßliche Geheimdienstler, "hier zu arbeiten". Technisch gesehen immerhin keine Lüge.

Das größte PR-Scheitern wäre aber ein organisatorisches Debakel bei der WM. Zu den vorhandenen 30.000 Hotelzimmern sollen in den nächsten sechs Wochen 20.000 hinzukommen, der alte Flughafen wird reaktiviert. Die große Unbekannte bleibt der Verkehr. Das Schulsemester wurde vorverlegt, sodass während der WM Ferien sind. Wer von zu Hause arbeiten kann, soll das tun, um Staus zu vermeiden. Die Metro ist in Doha noch eher ein Special-Interest-Projekt: Katarer und Expats fahren mit Auto oder Uber, Gastarbeiter mit dem Bus. Der arabische Supercup im Lusail Stadium Anfang September war ein Testlauf, trotz ausgebauter Kapazität gab es bei der Abreise kilometerlange Schlangen vor der Metrostation. Oder wie es ein Metroverantwortlicher formuliert: "Aus unserer Sicht gab es keine Probleme." Es wird, so viel kann man schon sagen, eine spannende WM. (Martin Schauhuber, 3.10.2022)