Sophie Lecheler und ihr Team an der Uni Wien nutzen Experimente und "Datenspenden", um zu sehen, was die User*innen sehen – und politische Diskurse in Zeiten der Digitalisierung zu verstehen.

Gerade noch mit einem Freund über Urlaubspläne gesprochen und wenig später taucht die passende Reisewerbung im eigenen Profil auf: Wenn Werbung im Internet zu persönlich wird, kann das auch den gegenteiligen Effekt haben, die Werbeforschung spricht vom "Creepiness-Effekt". Es ist gruselig, wenn uns das Internet zu gut kennt. Wenn sich nun auch politische Parteien an die neuen individualisierten Werbestrategien herantasten und dabei "eigentlich gar nicht genau wissen, was sie tun", kann das also durchaus nach hinten losgehen – und potenzielle Wähler*innen vergraulen anstatt sie zu gewinnen.

Da wir Politik mit anderen moralischen Standards messen als die Privatwirtschaft, stehen wir auch der Social Media-Nutzung von Politiker*innen kritischer gegenüber: So finden wir es möglicherweise besonders "creepy", wenn uns eine Partei, mit der wir bisher wenig Berührungspunkte hatten, plötzlich online anspricht, so Kommunikationsforscherin Sophie Lecheler. Was bedeutet es also für unseren Umgang mit politischen Informationen, unser Wahlverhalten, unser Vertrauen in die Demokratie, wenn Politiker*innen in unseren Profilen "vorbeischauen" und ihre Wahlbotschaften auf unsere Vorlieben und Bedürfnisse zuschneiden?

Immer mehr politische Parteien setzen personalisierte Werbebotschaften ein, um ihre Wähler*innen auf Social Media zu erreichen. Ein Team der Uni Wien rund um Sophie Lecheler untersucht die Potenziale und ungewollten Nebenwirkungen des digitalen Wahlkampfs.
Foto: DATADRIVEN Studie 2021/iStock

Was ist demokratisch "noch gesund"?

Sophie Lecheler und ihr 15-köpfiges Team an der Uni Wien betreiben politische Kommunikationsforschung. Was das genau heißt, erklärt uns die Medienexpertin im Interview: "Wir schauen uns an, wie Menschen oder Organisationen im öffentlichen Raum über gesellschaftspolitische Themen kommunizieren – und welche Rolle das für die Entwicklung der Demokratie spielt". Ziel der Forschung ist es, den Weg für eine "demokratisch gesunde" mediale Kommunikation zu ebnen, also eine Kommunikation, die vielleicht nicht nur konfliktbasierte Nachrichten verbreitet, sondern auch Lösungen anregen kann.

Zeig mir dein Social Media Profil und ich sag dir, wen du wählst

Die Verlagerung der Wahlwerbung in den digitalen Raum ist ein zentrales Thema der politischen Kommunikation und steht im Mittelpunkt des aktuellen Großprojekts "DATADRIVEN", in dem das Team der Uni Wien die Köpfe mit Kolleg*innen aus Amsterdam, Wageningen, Manchester und Sheffield zusammensteckt, und das Teil des hochdotierten EU-Programms "Democratic Governance in a Turbulent Age" ist. Lecheler und Co. untersuchen hier die gewollten und ungewollten Konsequenzen von datengestützten Wahlkampagnen für die Demokratie – zum ersten Mal im internationalen Vergleich: "Wir sind das erste Forschungsteam, das umfassende Einblicke in datengesteuerte Wahlwerbung gibt und Unterschiede zwischen Ländern aufzeigen kann – beispielsweise vergleichen wir Daten von der niederländischen Parlamentswahl und der deutschen Bundestagswahl 2021", erzählt sie uns, während wir ihr durch lange Gänge, an hellen Büros, Seminarräumen und Labors vorbei, zu ihrem Büro im 6. Stock am neuen Uni Wien-Standort Kolingasse folgen.

Mikrotargeting: Steter Tropfen höhlt die Meinung

In den Fokus der breiten Öffentlichkeit rückte das Thema politisches Mikrotargeting erstmals 2016, als Whistleblower die Machenschaften von Cambridge Analytica publik machten. Das Unternehmen mit Sitz in New York hatte die persönlichen Daten von Millionen potentiellen Wähler*innen gesammelt und mit zugeschnittenen Botschaften ihr Wahlverhalten beeinflusst. So etwa in der US-Präsidentschaftswahl, aus der Donald Trump als Sieger hervorging, oder als Großbritannien vor fünf Jahren mehrheitlich für den Brexit stimmte. Was die Methoden von Cambridge Analytica tatsächlich bewirkt haben, weiß man aber bis heute nicht, so Lecheler.

Auch österreichische Parteien verwenden Mikrotargeting, zum Beispiel im aktuellen Bundespräsidentschaftswahlkampf. Hierzulande werden die politischen Reklamen vorwiegend auf Facebook ausgespielt – nach wie vor die meistgenutzte soziale Plattform in Österreich. "Das darf man sich natürlich nicht wie eine 'silver bullet' vorstellen, die unsere Sichtweisen, sprich unser Wahlverhalten, um 180 Grad dreht", so Lecheler: "Aber aus der Werbeforschung wissen wir, dass Wiederholung funktioniert, und in den sozialen Netzwerken 'erwischt' uns die Werbung oft in unerwarteten Momenten, in denen wir vielleicht empfänglicher sind." Hauptsächlich wird die Algorithmen-basierte Werbestrategie eingesetzt, um Menschen zu erreichen, die in ihrer politischen Entscheidung noch unentschlossen sind.

Das hat durchaus auch seine guten Seiten: Mit Mikrotargeting auf Social Media können auch kleinere politische Parteien ohne millionenschwere Budgets effektiv Wahlwerbung betreiben und dadurch die Vielfalt in der Parteienlandschaft erweitern. Zum anderen können "oftmals vergessene" Gruppen adressiert und gezielt über politische Agenden informiert werden, etwa Migrant*innen, jüngere oder ältere Menschen. "Digitale Technologien haben starkes demokratisches Potenzial, da sie es allen Bürger*innen ermöglichen, an einem politischen Diskurs teilzuhaben", sagt Lecheler: "Das muss man natürlich erstmal nutzen."

Wenn die Wahlwerbung zur Black Box wird

"Ein Großteil der digitalen Kommunikation, die wir heute erleben, wird von Algorithmen gesteuert. Das hat Konsequenzen für den Diskurs". Sophie Lechner ist Expertin für politische Kommunikation an der Universität Wien und leitet eine 15-köpfige Forschungsgruppe.
Foto: Alexander Bachmann

Wie Bürger*innen von welchen Parteien in welcher Form digital angesprochen werden, ist für die Wissenschaft mit den neuen Entwicklungen allerdings zur Black Box geworden. "Von den Parteien bekommen wir die Daten aus nachvollziehbaren Gründen nicht, von den Plattformen wie Meta (Anm.: US-Technologieunternehmen, zu dem u.a. Facebook, Instagram oder WhatsApp gehören) aber auch nicht", erklärt Lecheler. Die Plattformen sind theoretisch zwar verpflichtet, gesponserte Posts in einer Ad Library sichtbar zu machen – in der Praxis wird dieser Verpflichtung aber nicht immer nachgekommen, "viele der Libraries sind unvollständig", beklagt sie.

Angewiesen sind die Forscher*innen also auf sogenannte "Data Donations", Spenden von User*innen, die Screenshots von ihrem Newsfeed einsenden und dazu befragt werden, bzw. Datenspende-Apps installieren, die es dem Team ermöglichen mitzuverfolgen, wie die User*innen in Wahlkampfzeiten "getargeted" werden. Im großen Stil initiierte Satiriker Jan Böhmermann im vergangenen Jahr einen solchen Datenspendeaufruf, um das Mikrotargeting deutscher Parteien anlässlich der Bundestagswahl 2021 aufzuzeigen, und stellte die gesammelten Daten anschließend auch der Forschung zur Verfügung. Neben der Analyse von Datenspenden führt das Uni Wien-Team im Projekt auch experimentelle Studien durch, um die Wirkung der personalisierten Wahlwerbung auf die User*innen zu analysieren.

Viele politische Parteien wissen nicht, was sie tun

Fest steht, dass viele Ängste und noch wenig Fachwissen um das Thema Mikrotargeting kreisen, vor allem in Bezug auf eine mögliche Manipulation von Wähler*innen vor den Wahlen. Die ersten Ergebnisse von Lecheler und Co. geben – vorerst – Entwarnung: vom perfekten Targeting sind wir noch weit entfernt. Gut gemacht verfehlt es seine Wirkung nicht, aber das Matching der Werbungen ist oft ungenau oder eher grob. Fühlen sich die Bürger*innen falsch angesprochen, z.B. wenn eine eingefleischte ÖVP-Wählerin eine Werbung der SPÖ angezeigt bekommt, oder zu einem Thema, das sie nicht interessiert, dann kann die Wirkung auch gegenteilig sein. "Das kann zur Folge haben, dass sich Wähler*innen von der Partei abwenden oder demobilisiert werden und nicht mehr wählen wollen", erklärt Lecheler.

Besonders klar zeigt sich, dass die Bürger*innen neue digitale Kompetenzen brauchen, um mit Mikrotargeting umzugehen, betont die Projektleiterin: "etwa indem sie lernen, welche Einstellungen am Browser das Targeting beeinflussen oder wie soziale Medien ihre Daten an Parteien verkaufen". Im Projekt arbeiten die Forscher*innen in Kooperation mit der NGO "Tactical Tech" an einem Leitfaden, der Nutzer*innen über ihre digitalen Spuren aufklärt und sie für personalisierte Kommunikation sensibilisiert.

"Es ist wichtig, dass wir Zugang zu unseren Daten haben und wissen, welche Informationen über uns gesammelt werden, um dann souverän darüber entscheiden zu können", erklärt Sophie Lecheler. Die Europäische Kommission hat mit der Datenschutzgrundverordnung bereits die Weichen gestellt, um der wachsenden Macht der Plattformen etwas entgegenzusetzten – und in diese Richtung muss es ihr zufolge weiter gehen: hin zu mehr Transparenz. Denn ein Verbot politischer Werbung auf den großen Plattformen, wie es zuletzt Twitter verkündete, sei auch nicht die Lösung: "Wohin wandert die personalisierte Kommunikation dann? Zu geschlossenen Telegram-Gruppen, die wir gar nicht mehr analysieren können?"

Ein Update für unsere Demokratie

Die personalisierte Online-Kommunikation ist gekommen, um zu bleiben. Die technischen Möglichkeiten machen unsere demokratischen Prozesse nicht per se besser oder schlechter, ist Sophie Lecheler überzeugt, sondern es kommt darauf an, wie wir damit umgehen und den Diskurs darüber in Zukunft gestalten. Also Ärmel hochkrempeln und weiterforschen, findet die engagierte Wissenschafterin, die sich demnächst mit Vertreter*innen von Meta, Google und anderen Stakeholdern an einen Tisch setzen wird, um Forschung und Praxis zusammenzubringen. Die Digitalisierung verlange eine Neudefinition der Demokratie, sagt sie. Die Antwort auf die Frage, wann das fällige Update durchgeführt werden soll, war wohl noch nie so klar: Jetzt, und zwar noch vor dem Herunterfahren.

Hinweis: Die "Semesterfrage" ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Kooperation mit der Universität Wien. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim STANDARD.