Der diesjährige Nobelpreis in Medizin oder Physiologie geht an den schwedischen Evolutionsforscher Svante Pääbo "für seine Entdeckungen in Bezug auf die Genome ausgestorbener Homininen und die menschliche Evolution". Das gab die Nobelversammlung des Karolinska-Instituts in Stockholm Montagmittag bekannt. Der Mediziner und Biologe gilt als Begründer der Paläogenetik, die sich mit der Analyse genetischer Proben fossiler Funde beschäftigt.

Pääbo befasst sich schon seit Jahrzehnten mit uraltem Erbgut. 1984 gelang ihm als Doktorand erstmals die Klonierung der DNA einer Mumie.
Foto: Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology/Frank Vinken

Es ist für Pääbo die jüngste große Auszeichnung in einer langen Reihe: Der Sohn des schwedischen Nobelpreisträgers Sune Bergström (Medizinnobelpreis 1982) gilt als einer der meistzitieren Forscher der Gegenwart. Mit der Paläogenetik hat er eine eigene, höchst erfolgreiche Forschungsrichtung auf den Weg gebracht, die praktisch im Wochentakt mit neuen, faszinierenden Erkenntnissen aufwartet.

Uralte DNA

Forscher können heute aus den Knochen von Menschen, die vor tausenden Jahren gestorben sind, DNA-Proben ziehen und dadurch neue Erkenntnisse etwa über urzeitliche Wanderungsbewegungen gewinnen. Pääbo gelang mit seinem Team 1997 der entscheidende Durchbruch, indem er erstmals kleine Teile der DNA eines Neandertalers sequenzieren konnte. In der Wissenschaft spricht man bei Erbgutmolekülen von toten Organismen, die mindestens hundert Jahre alt sind, von aDNA ("ancient DNA", also alter DNA).

Pääbo, geboren 1955 in Stockholm, galt schon als Student als Forschungspionier und war von der Idee besessen, die DNA von ägyptischen Mumien zu klonen. Mit Erfolg: 1984 gelang es ihm erstmals, Erbgut aus Gewebeproben von Mumien zu isolieren und identische Moleküle herzustellen (im Fachjargon spricht man von Klonierung). Damit schaffte er es auf die Titelseite des renommierten Fachjournals "Nature" – im Alter von gerade einmal 29 Jahren.

Nach seiner Promotion an der Universität Uppsala mit einer Arbeit über molekulare Immunologie arbeitete Pääbo im Team des Evolutionsbiologen Allan Wilson an der University of California in Berkeley. Ab 1990 leitete er ein Labor an der Universität München, 1997 wechselte Pääbo als einer von fünf Direktoren an das neu gegründete Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Neandertalergene im Visier

Bald nach den Mumien rückten ausgestorbene Verwandte in Pääbos Forschungsfokus. Er setzte sich zum Ziel, mit modernen genetischen Methoden die DNA von Neandertalern zu untersuchen. Dabei wurden jedoch die extremen technischen Herausforderungen offensichtlich, denn die DNA verändert sich mit der Zeit und zerfällt in winzige Fragmente.

Dazu kommt: Knochen von Neandertalern sind nach Jahrtausenden im Boden von Bakterien und Pilzen so stark besiedelt, dass bis zu 99,9 Prozent der darin gefundenen DNA von Mikroben stammen. Dem Team um Pääbo gelang es jedoch, unter extremen Reinheitsbedingungen und mithilfe komplexer Computerprogramme sowie Referenzgenomen von Menschen und Schimpansen erfolgreiche Methoden zur Lösung solcher genetischen Puzzles zu entwickeln.

Der Frühmensch in uns

Was man seither alles mit aDNA-Analysen entdeckte, ist kaum zu überblicken: Mit der Sequenzierung des Neandertaler-Genoms, die 2009 abgeschlossen war, und Vergleichen mit der DNA heute lebender Menschen wurde etwa offensichtlich, dass die meisten Menschen außerhalb Afrikas rund zwei Prozent an Neandertaler-DNA in sich tragen, weil sich unsere Vorfahren mit Neandertalern paarten. Zudem ließ sich errechnen, dass die letzten gemeinsamen Vorfahren von uns und den Neandertalern vor rund 500.000 Jahren lebten.

Um an jahrtausendealte menschliche DNA zu kommen, werden nur wenige Milligramm Knochenmaterial benötigt.
Foto: Frank Vinken/Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology

Pääbo und seinem Team vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig gelang 2010 eine weitere Sensation: Aus einem winzigen 40.000 Jahre alten Fingerknochen, der in einer Höhle im südsibirischen Altai-Gebirge gefunden worden war, konnten die Forschenden gut erhaltene DNA gewinnen, die sich sowohl vom Neandertaler wie auch vom modernen Menschen unterschied: Der Denisova-Mensch war entdeckt worden!

Auch dieser ausgestorbene Verwandte beeinflusste die Physiologie des heutigen Menschen. Ein Beispiel dafür ist die denisovanische Version des Gens EPAS1, die einen Vorteil für das Überleben in großer Höhe bietet und bei den heutigen Tibetern verbreitet ist.

Auf die Frage, warum sich der moderne Mensch durchgesetzt hat, während die Neandertaler und die Denisovaner ausgestorben sind, antwortete Pääbo 2018 im STANDARD-Interview: "Vermutlich liegt es in unseren einzigartigen Genen, dass wir eine so ausgeprägte kognitive Bereitschaft zum Lernen haben."

Svante Pääbo im Gespräch mit Ranga Yogeshwar 2018.
Körber-Stiftung

Die weitere Nobelpreiswoche

Im Vorjahr ging der Medizinnobelpreis an den US-amerikanischen Physiologen David Julius und den libanesisch-amerikanischen Molekularbiologen Ardem Patapoutian für die Erforschung des Temperaturempfindens.

Nach dem Auftakt bleibt es in Stockholm noch länger spannend: Am Dienstag erfolgt die Verkündung der Preisträger für Physik, am Mittwoch für Chemie, Literatur folgt am Donnerstag und Frieden am Freitag. Am Montag kommender Woche wird noch der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften vergeben. Übergeben werden die Preise alljährlich am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel. Jeder Preis ist mit zehn Millionen schwedischen Kronen dotiert, das entspricht etwa 981.000 Euro. (dare, trat, tasch, 3.10.2022)