Der ehemalige deutsche Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer geht in seinem Gastkommentar davon aus, dass die EU neben der Rechtsgemeinschaft und dem gemeinsamen Markt auch zu einer Sicherheitsgemeinschaft wird.

Völkerrechtswidrige Annexion von vier ukrainischen Gebieten: Russlands Präsident Wladimir Putin auf dem Roten Platz in Moskau.
Foto: IMAGO/SNA

Wladimir Putins militärischer Überfall auf die Ukraine ist der Versuch, die Zeit zurückzudrehen, zurück in jene Zeit, als Russland Großmacht war und Osteuropa beherrschte. Letztendlich geht es dem russischen Präsidenten sogar um die Revision des Ausgangs des Kalten Krieges. Damit überschätzt er sich aber völlig. Das eine sind seine wiedererstandenen Zarenträume, das andere hingegen ist die Wirklichkeit, und in dieser scheint sich Putin mit seinem Krieg mächtig verkalkuliert zu haben.

Wir wissen zwar noch immer nicht, Stand Oktober 2022, wie dieser Krieg enden, wie viele Opfer er auf beiden Seiten noch verlangen wird, aber schon heute kann man feststellen, dass Putin diesen Krieg nicht mehr gewinnen kann, nicht auf dem Schlachtfeld und politisch schon gar nicht.

Putins Schwäche

Seine Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen und die russische Teilmobilisierung legen ganz im Gegenteil seine Schwäche und seine missliche Lage auf dem ukrainischen Schlachtfeld offen. Die von ihm so genannte "militärische Spezialoperation" ist ganz offensichtlich gescheitert und muss zu einem "Krieg" werden mit dem vollen Rückgriff auf das strategische Potenzial Russlands bis hin zur Drohung mit einem Nuklearkrieg.

Sollte Putin tatsächlich dieses seit 1945 geltende Tabu der internationalen Großmachtpolitik zerbrechen, so wird er nicht nur Russland definitiv zu einem Paria-Staat machen und international völlig isolieren. Indien und China werden diesen Weg nicht mitgehen, und die USA und die Nato werden nicht im Nichtstun verharren, sondern wohlkalkuliert nichtnuklear militärisch reagieren. Für Putin ist dies kein Schritt Richtung Sieg, sondern eher ein entscheidender in Richtung seiner definitiven Niederlage.

"Ewige Nachbarn"

Was heißt diese Entwicklung nun für Europa? Russland und Europa sind Nachbarn auf demselben Kontinent, "ewige Nachbarn", was immer da auch noch kommen mag.

Aus europäischer Sicht wird Russland fortan wieder zur militärischen und das heißt existentiellen Bedrohung für den Kontinent. Die Europäer glaubten diesen Zustand mit dem Ende des Kalten Krieges überwunden zu haben. Diese Hoffnung hat sich in unseren Tagen als großer Irrtum erwiesen. Europa ist in seinem tiefen Osten erneut zweigeteilt, und Russland führt Krieg in der Ukraine, um diesen Staat auszulöschen und sein Territorium und seine Bevölkerung gegen deren freien Willen zu vereinnahmen.

"Die USA sind von überragender Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit Europas, wie uns ein weiteres Mal Putins Angriffskrieg in der Ukraine zeigt."

Der Kalte Krieg, mit der ganz akuten Gefahr, zu einem heißen und sogar nuklearen zu werden, ist angesichts des Überfalls auf die Ukraine und Putins nuklearem Säbelgerassel zurück.

Europa wird sich darauf einzustellen haben, dass es an seiner Ostgrenze von einer nuklearen Großmacht direkt bedroht wird. Diese Tatsache wird die EU dauerhaft verändern.

Die EU ist alles andere als eine geopolitische Großmacht. Ökonomisch und technologisch ist sie durchaus ernst zu nehmen, aber machtpolitisch bringt sie aufgrund ihrer Gespaltenheit und Zerrissenheit kaum ein Gewicht auf die Waage. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat zwar für den europäischen Einigungsprozess gereicht, der die EU mit ihrer Reisefreiheit und gemeinsamen Währung und Markt hervorgebracht hat. Aber eine machtpolitische Einigung des Kontinents war niemals möglich.

Nukleare Erpressung

Genau darum wird es angesichts des zweiten Kalten Krieges in Europa aber fortan gehen müssen. Oder wollen die Europäer dauerhaft unter der militärischen Bedrohung durch Russland bis hin zur nuklearen Erpressung leben? Denn auch die Nato mit ihrer transatlantischen Rückversicherung wird nur stark bleiben, wenn die Europäer bei ihrer machtpolitischen Integration vorankommen, höhere Beiträge zur gemeinsamen Verteidigung und Abschreckungsfähigkeit leisten und insgesamt dadurch den europäischen Pfeiler der Nato als transatlantischer Brücke stärken.

Die USA sind von überragender Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit Europas, wie uns ein weiteres Mal Putins Angriffskrieg in der Ukraine zeigt. Nach den Erfahrungen mit Donald Trump stellt sich aber die Frage für die Europäer, ob auch der nächste und übernächste Präsident an der transatlantischen Solidarität festhalten wird. Wünschenswert wäre es, aber sicher ist das nicht mehr. Umso wichtiger werden die europäischen Verteidigungsbeiträge und die machtpolitische Integration der EU für die transatlantischen Beziehungen sein.

Anhaltende Bedrohung

Die anhaltende Bedrohung der europäischen Ostgrenze durch Russland wird auch den Schwerpunkt der EU weiter nach Osten verlagern und den östlichen Mitgliedstaaten ein größeres Gewicht im Konzert der Gemeinschaft verleihen. Die EU wird dadurch neben der Rechtsgemeinschaft und dem gemeinsamen Markt zu einer Sicherheitsgemeinschaft werden, eng verzahnt mit der Nato, wie der Beitrittswunsch zur Nato durch die beiden EU-Mitgliedstaaten Finnland und Schweden ganz praktisch zeigt.

Gegenwärtig geht es vor allem darum, die ganz aktuellen Bedrohungen und Gefahren gemeinsam abzuwehren. Welche institutionellen Veränderungen im Gebäude der EU aus der veränderten Sicherheitsarchitektur in Europa notwendig werden, wird uns die Zukunft zeigen.

Ob Putin wohl wusste, was er tat, als er den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gab? Man wird dies wohl nie mit Gewissheit erfahren. Die europäische Friedensordnung wurde durch ihn zertrümmert, und die Welt und vor allem die Europäer, die Nachbarn Russlands auf dem Kontinent, werden sich darauf einzustellen haben. Ein weiteres Mal geht es um die Verteidigung von Freiheit, Frieden und Demokratie in Europa. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 4.10.2022)