Das Leben auf der Erde entstand in den Ozeanen. Doch Wasser ist nicht immer von Vorteil, wenn es um die Bildung von lebendem Gewebe geht.
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Das größte Rätsel der Welt mag der Mensch sich selbst sein, wie es bei Novalis heißt. In diesem Fall wäre die Entstehung von Leben auf der Erde wahrscheinlich das zweitgrößte Rätsel. Wie aus der in der unbelebten Natur überall vorhandenen (und immer zunehmenden) Unordnung etwas so Komplexes wie Leben hervorgehen kann, beschäftigt Philosophie und Wissenschaft seit jeher. Im Gegensatz zu anderen Rätseln, die nach und nach gelöst wurden, je weiter das Verständnis über die Natur seit der Antike fortschritt, ist das Rätsel des Lebens bis zum 21. Jahrhundert vielleicht sogar noch größer geworden.

Langsame Annäherung an die Urzelle

Nach Überwindung früher Vorstellungen der Natur als überall beseelt und bis in die letzte Ecke von Göttern bewohnt, und nachdem in klassischer Science-Fiction-Literatur von Edgar Allan Poe bis Stanisław Lem auf den benachbarten Himmelskörpern durchwegs Leben vermutet wurde, setzte sich doch nach und nach die Erkenntnis durch, wie tot eigentlich ein Großteil des Universums ist, selbst wenn man mögliches außerirdisches Leben mitzählt, was die Entstehung von Leben auf der Erde noch außergewöhnlicher macht.

Heute gelingt es, immer mehr Schritte der Kette von Ereignissen vor etwa dreieinhalb Milliarden Jahren nachzuvollziehen, an deren Ende eine lebende Zelle stand, von der wir und alles bekannte Leben vielleicht abstammen. Dennoch gibt es bisher nicht aufgelöste Widersprüche, die etwa die fantastische These, dass das Leben auf der Erde aus dem All stammt, plausibler machen, als sie auf den ersten Blick aussehen mag. Dass Aminosäuren, die Bestandteile der in der Biologie fast alles bestimmenden Proteine, in Kometen oder interstellaren Wolken zu finden sind, weiß die Wissenschaft schon seit langer Zeit. Über Meteoriteneinschläge gelangten sie auf die Erde, wo sie sich im Urmeer zu immer komplexeren Bestandteilen von Leben verbanden.

Bildung von Peptiden

Doch insbesondere ein Schritt in der Verbindung von Aminosäuren zu größeren Strukturen, den Peptiden, die wiederum Vorläufer der Proteine sind, gibt den Forschenden Rätsel auf. Dabei muss den Aminosäuren nämlich Wasser entzogen werden. Das Problem dabei: Wenn Leben im Wasser entstand, ist nicht so einfach zu erklären, wie das in der feuchten Umgebung vonstatten gegangen sein soll. Eine Studie zeigte etwa zu Beginn dieses Jahres, dass sogar im Weltraum bessere Bedingungen zur Bildung von Peptiden herrschen als in den Urozeanen. Nun liefert eine neue Studie im Fachjournal "Proceedings of the National Academy of Sciences" eine verblüffende Lösung, die auch auf der frühen Erde funktioniert haben könnte.

"Im Wesentlichen ist das die Chemie hinter dem Ursprung des Lebens", sagt Graham Cooks von der Universität Purdue im US-Bundesstaat Indiana und Leiter des Forschungsteams, das die Studie veröffentlichte. Er ist ein Experte für Massenspektrometrie, mit der Konzentrationen von Stoffen auf wenige Atome genau untersucht werden können.

Auf der Oberfläche kleiner Tropfen

Zehn Jahre Forschung seines Teams führten nun zu einer erstaunlichen Entdeckung: Die Reaktionen, die zur Bildung von Peptiden nötig sind und die in Wasser nicht oder nur in sehr geringem Maß ablaufen, sind an der Oberfläche von Wassertropfen um bis zu einem Million Mal beschleunigt. Der Nachweis ist zugleich eine Premiere: Es ist das erste Mal, dass eine solche Reaktion in reinem Wasser beobachtet werden konnte.

Auch für die Suche nach Leben auf anderen Planeten habe das Ergebnis Auswirkungen, sagt Cooks. Es könne Forschenden genauer zeigen, wonach sie zu suchen hätten. Entscheidend dürften nach den neuen Erkenntnissen Küsten sein, an denen Gischt entsteht und auf trockenes Land spritzt. Cook will den Effekt künftig außerdem technisch nutzbar machen, um chemische Reaktionen in Labors zu beschleunigen und Katalysatoren zu ersetzen.

Auch vulkanische Unterseeschlote, sogenannte Schwarze Raucher, gelten als Kandidaten für die Entstehung des Lebens auf der Erde. In Gasblasen könnten sich sogenannte Protozellen gebildet haben.
Foto: Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, Universität Bremen

Grenzflächen im Fokus

Die Erkenntnis, dass Grenzflächen bei der Entstehung des Lebens eine Rolle gespielt haben könnten, ist nicht ganz neu. Bereits 2019 fand ein deutsches Forschungsteam Hinweise darauf, dass chemische Reaktionen, die für die Entstehung des Lebens wichtig sind, an Übergängen zwischen Wasser und Gas stattfinden. In diesem Fall ging es um die Bildung von Vorläufern von Zellen, sogenannten Protozellen. Die Forschenden vermuten als Ort, an dem das stattfand, aber nicht Wassertropfen, sondern Gasblasen, wie sie etwa in der Tiefsee bei vulkanischen Schloten entstehen – Orte, die völlig autarke und von Sonnenlicht unabhängige Ökosysteme beherbergen und ebenfalls immer wieder als mögliche Wiege des Lebens auf der Erde genannt werden. (Reinhard Kleindl, 4.10.2022)