In der dritten Woche der Proteste meldete sich Ali Khamenei doch noch zu Wort. Der geistliche – de facto absolute, also auch politische – Führer des Landes attestierte sich selbst ein "gebrochenes Herz" über den Tod Mahsa Aminis im Polizeigewahrsam am 16. September. Und dann legte er los. Das Verhalten der Demonstranten und Demonstrantinnen sei "unnatürlich" und "nicht normal", sagte der 83-jährige Ayatollah, was "Zeichen Gottes" heißt, vor Polizeischülern. Das Ausland stecke hinter den Unruhen, sie seien geplant. Er nannte die üblichen Verdächtigen, USA und Israel.

Dafür, dass das Kopftuch, das die Frauen in Scharen abnehmen, als Symbol für eine Zwangsordnung steht, hat das Regime aber schon allein gesorgt. In dem einen Punkt sind sich die Führung und die protestierende Zivilgesellschaft sogar einig: dass sich im Hijab die Identität der Islamischen Republik wiederfindet. Präsident Ebrahim Raisi hat bereits klargemacht, dass man vielleicht über die Methoden der Umsetzung des Kopftuchzwangs reden kann, aber nicht über den Zwang selbst.

Proteste von Studierenden in Isfahan: Die Unis sind der neue Hotspot.
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Die Menschen geben aber nicht nach. Aus den Protesten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen an verschiedenen Orten ist eine Bewegung geworden, die sich als Einheit sieht. So wurden in Teheran bei Demonstrationen Sympathien für Belutschistan, wo die Gewalt zuletzt besonders groß war, bekundet.

Diaspora schließt sich an

Die Interessen einzelner Akteure mögen differieren: die persönliche Unfreiheit, die die Jungen, gut Ausgebildeten besonders spüren; ethnische oder religiöse Diskriminierung; Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not. Das Ziel, das Ende des Systems, eint sie, und diese Einheit würde auch nicht – wie 1979 nach dem Sturz des Schahs – zerbrechen, versichert ein iranischer Beobachter demSTANDARD. Die iranische Diaspora hat sich weltweit den Protesten angeschlossen, auch in Wien wurde am Wochenende wieder demonstriert.

Die Universitäten im Iran wurden da gerade zum neuen Zentrum der Proteste. In Teheran waren Studierende der Sharif-Universität den Schlägertrupps der Paramilitärs, der freiwilligen Basij-Milizen, ausgesetzt, von denen das Regime zehntausende, wenn nicht hunderttausende organisieren kann. Auch in Isfahan, Yazd, Kermanshah, Shiraz und Mashhad verlangten Studenten und Studentinnen Freiheit und wünschten Khamenei den Tod. Der ist zwar schwer erkrankt: Die New York Times spekulierte noch vor dem Ausbruch der Proteste über seinen schlechten Gesundheitszustand. Der Slogan war allerdings schon bei früheren Protesten zu hören, die den Iran in immer kürzeren Abständen erschüttern.

Todeswünsche

Am Wochenende wurde das Video eines Luftwaffenoffiziers öffentlich, der sich von der Staatsmacht distanzierte. Dafür wurden Szenen aus dem Parlament ausgestrahlt, das sich hinter Khamenei und die Polizei stellte. Auch die Abgeordneten waren mit Todeswünschen bei der Hand, sie galten den "Heuchlern". Damit sind iranische Oppositionsgruppen im Ausland gemeint. Die bekanntesten – die Volksmujahedin und die Monarchisten – halten sich aber eher zurück, sie wissen, dass ihre Präsenz viele andere Iraner und Iranerinnen irritieren würde.

Sicher ist, dass, unabhängig von Ort und Hintergrund, Frauen die Proteste anführen, weshalb manchmal von einer "feministischen Revolution" gesprochen wird. Den ersten Anti-Hijab-Protest gab es übrigens bereits im März 1979, also wenige Wochen nach dem Sturz des Schahs, als sich der Kopftuchzwang abzeichnete, der dann schrittweise umgesetzt wurde. Bei einer Umfrage vor wenigen Jahren lehnte eine Mehrheit der Bevölkerung ihn ab. 2018 gingen die Bilder von Vida Movahed, die ihren Hijab auf Teherans Straßen in den Wind hängte, um die Welt.

Auch wirtschaftliche und soziale Gründe sind ein wiederkehrendes Motiv: Sie waren 2017 und 2019 Auslöser für Proteste. Sogar laut offiziellen iranischen Quellen lebt ein Drittel der Bevölkerung in Armut. Alle leiden unter der galoppierenden Inflation, Währungsverfall, Arbeitslosigkeit: Außer Zwangsmaßnahmen hat das Regime den Menschen nicht viel zu bieten. Mit der Hoffnung auf einen neuen Atomdeal schwand jene auf Verbesserung.

Von den politischen Reaktionen des Auslands sind viele Aktivistinnen enttäuscht, sie würden mehr Druck auf Teheran erwarten. Am Wochenende machte ein Gerücht die Runde, das sie aufbrachte: Die USA hätten zugestimmt, dass in Südkorea eingefrorenes iranisches Geld (insgesamt ist die Rede von sieben Milliarden US-Dollar) an Teheran gehen sollte, im Tausch für die Freilassung ihrer im Iran festgehaltenen Bürger Baquer Namazi (85) und dessen Sohn Siamak. Letzterer bekam offiziell nur einen einwöchigen Hafturlaub, sein schwerkranker Vater, der zuletzt nicht mehr im Gefängnis war, konnte das Land verlassen. Das US-Außenministerium dementiert so einen "Deal". (Gudrun Harrer, 3.10.2022)