Ein Wandgemälde in Polen beschäftigt sich mit dem Krieg, in den Russland die Ukraine verwickelt.

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Die Gänge im Gebäude des Präsidialamtes, ein schwer bewachter Ort im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt, sind stockdunkel. Aus Sicherheitsgründen, erklärt ein Mitarbeiter und führt in das Büro von Andrij Smirnow. Der Jurist ist Selenskyjs stellvertretender Stabschef und Mitglied des Aufsichtsrates der staatlichen Ukrainischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. E-Zigarette rauchend sitzt er an einem schweren Holztisch.

STANDARD: Wenn Sie an die letzten Monate zurückdenken, gab es ein Ereignis, das Sie besonders geprägt hat?

Smirnow: So ein Ereignis gibt es beinahe jeden Tag. Vorletzte Woche etwa, als die Ausgrabung der Grabstätte von Isjum stattfand. Ich habe Berichte gelesen, die auf der Untersuchung der Leichen basieren. Darunter minderjährige Mädchen, die vor ihrem Tod vergewaltigt wurden. Buben, denen man die Genitalien abgeschnitten hat. Und eine unfassbar große Anzahl an Erwachsenen.

STANDARD: Sie wollen Russlands Spitzenbeamte für die "Verbrechen der Aggression" gegen die Ukraine anklagen. Über wen reden wir?

Smirnow: Wir sprechen von all jenen, denen wir rechtlich nachweisen können, dass sie etwas damit zu tun haben. Das sind Putin und alle Mitglieder des russischen Sicherheitsrates. Im Grunde genommen ist es ziemlich einfach, rechtliche Beweise vorzulegen, denn es gibt zwei Videos. Das erste zeigt die Sitzung des Sicherheitsrates im Februar. Zu sehen ist, wie Putin jedes Mitglied des Rates ausdrücklich fragt, ob es seine Entscheidung, eine sogenannte militärische Sonderoperation in der Ukraine durchzuführen, unterstützt. Und das andere Video zeigt die Erklärung Putins, als er die "Militäroperation" ankündigt. Die Invasion eines Landes ist ohne die Entscheidung des Staatsoberhauptes nicht möglich.

STANDARD: Wie wollen Sie eine Verurteilung erreichen?

Smirnow: Wir haben eine enorme Anzahl an Straftaten registriert: Völkermord, Folter und zahlreiche andere Gräueltaten, die als Kriegsverbrechen gelten. Der Internationale Strafgerichtshof führt die Ermittlungen zu den Kriegsverbrechen durch. Die Frage, die noch offen ist: Wer wird die Verantwortung für das "Verbrechen der Aggression" übernehmen? Weder die Ukraine noch Russland haben das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert. Er ist deshalb nicht in der Lage, in dieser Sache zu ermitteln. Deshalb sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir ein internationales Sondertribunal brauchen, das sich allein mit dem Verbrechen der Aggression befasst.

STANDARD: Wie wird die Ukraine auf die russische Annexion ukrainischer Gebiete reagieren?

Smirnow: Wir sollten aus dieser Show keine vorläufigen Schlüsse ziehen. Denn wir haben eine sehr effektive Gegenoffensive gestartet, und wir wissen nicht, welche Siedlungen die ukrainische Armee als Nächstes befreien wird. Verhandlungen mit dem politischen Regime in Russland sind unmöglich. Deshalb ist jedes Abkommen, das Russland unterzeichnet, das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht. Die jüngste Teilmobilisierung in Russland löst in der Ukraine jedenfalls keine Angst aus. Diese Clowns, die Russland mobilisiert hat, können nur eines: töten, foltern, vergewaltigen und Waschmaschinen aus unseren Wohnungen und Häusern stehlen.

STANDARD: Wann könnte dieser Krieg enden?

Smirnow: Lassen Sie es mich so sagen. Der Krieg wird so lange weitergehen, bis die Ukraine gewinnt oder Russland kapituliert. Aber ich glaube, dass die Einrichtung eines internationalen Sondertribunals Auswirkungen auf den Verlauf des Krieges haben könnte. Denn Putin rechnet nicht damit, international komplett isoliert zu werden. Schließlich sind die Verbrechen, die Russland in der Vergangenheit ausgeübt hat – der Georgienkrieg 2008, die Annexion der Krim 2014 –, für ihn weitgehend ohne Konsequenzen geblieben.

STANDARD: Was will die Ukraine in Bezug auf Reparationen?

Smirnow: Zum jetzigen Zeitpunkt sprechen wir über Reparationen, die ohne die Zustimmung des Aggressorstaates erfolgen. Damit schaffen wir einen wichtigen Präzedenzfall. Wir führen diplomatische Gespräche mit einer Reihe von Ländern. Dabei geht es auch darum, ob und wie wir auf das Geld der Aggressoren zugreifen können. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Eine davon ist die Schaffung eines globalen Reparationsmechanismus durch die Einrichtung eines internationalen Fonds. Das bringt natürlich auch Schwierigkeiten mit sich. Vor allem dann, wenn wir über Staatsfonds sprechen, die von der russischen Zentralbank in anderen Ländern angelegt wurden. Wenn wir über das Geld der Oligarchen aus dem Umfeld Putins sprechen, sieht die Sache anders aus. Denn die Russen lagern ihr Geld nicht irgendwo in Simbabwe, sondern in den wichtigsten Demokratien der Welt. (Daniela Prugger aus Kiew, 4.10.2022)

Andrij Smirnow (41) ist stellvertretender Stabschef des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Foto: Präsidialamt