Felix ist aktuell in Barcelona, wiegt 80 Kilogramm und fühlt sich gut. Und das, obwohl er aktuell 80 Punkte auf seiner To-do-Liste hat und zuletzt vor 97 Tagen meditiert hat. Immerhin hat er letzte Nacht 8,5 Stunden geschlafen – wobei seine Herzfrequenz im Schlaf etwas höher war als im Jahresdurchschnitt. Das könnte auch daran liegen, dass er vergangene Woche nur an einem Tag im Fitnessstudio war.

All das lässt sich mit einem Klick über Felix Krause herausfinden. Denn der Softwareentwickler und -Consultant erfasst so viele Daten wie möglich über seinen Körper und sein Leben und veröffentlicht diese auf seiner Website HowIsFelix.today. Damit ist er nicht allein: Hunderttausende Menschen speichern tagtäglich, wie es ihnen geht, was sie gegessen haben und wo sie sich aufgehalten haben. Ihre Bewegung nennt sich Quantified Life. Nicht alle machen ihre Daten so öffentlich wie Felix Krause. Und dennoch machen sie sich freiwillig zum gläsernen Menschen – wenn auch vor allem für sich selbst. Doch warum tun sie das?

Apps wie Rescuetime erfassen, womit man seine Zeit am Bildschirm verbringt. Das Ergebnis ist zum einen ein Psychogramm des digitalen Menschen. Zum anderen wollen Selbsttracker wie Felix Krause aber bessere Lebensentscheidungen aus den Daten ableiten.

Auch Goethe sammelte Daten

Sich selbst zu protokollieren scheint schon länger einen Reiz auf Menschen auszuüben. Schon Goethe führte Buch über seine Mahlzeiten, seine Spaziergänge und seine Treffen mit anderen Personen. Andy Warhol sammelte über Jahrzehnte alles, was über seinen Schreibtisch ging, und archivierte es in insgesamt 600 Kartons. Der japanische Künstler On Kawara teilte elf Jahre lang täglich Freunden per Postkarte mit, wo und wann er aus dem Bett gestiegen ist. Und ein Microsoft-Mitarbeiter begann schon Ende der 1990er-Jahre, mit einer Minikamera sein gesamtes Leben abzufilmen.

Einen Namen bekam diese menschliche Eigenheit aber erst 2007. Quantified Life tauften die "Wired"-Journalisten Gary Wolf and Kevin Kelly die Bewegung der Datensammler – und gaben ihr auch gleich einen Sinn mit: "Selbsterkenntnis durch Daten" sollte das Verfahren bringen, mit den Zahlen das meiste aus dem Leben herausholen.

Die Zahlen sind überall

Die Bewegung versammelt vor allem Techniknerds. Doch 15 Jahre später ist fast jeder ein bisschen "quantified": Smartphones zählen automatisch Schritte, Youtube und Instagram messen die Bildschirmzeit, und zum Laufen oder Radfahren gehört eine Sportuhr oder Fitnessapp fast schon so dazu wie der Laufschuh oder das Fahrrad.

Auch Felix Krause wurde durch die Fitnessdaten seiner Uhr angefixt. Doch vor rund drei Jahren merkte er: "Wenn ich die Sachen jetzt nicht tracke, dann bekomme ich sie auch im Nachhinein nicht", sagt er zum STANDARD. Also begann er, per Hand zusätzliche Daten zu einzugeben – darunter Stimmung, Schlafdauer, Krankheitssymptome oder womit er seine Zeit am Computer verbringt (siehe Grafik oben). Am Höhepunkt trug er täglich 100 Werte in seine Excel-Datei ein.

So dokumentierte ein Reddit-Nutzer seine Stimmungsschwankungen.

Zusammenhänge finden

Dazu kamen Daten, die er bei Unternehmen erfragte. Diese müssen nämlich ihren Kunden auf Anfrage alle über sie gespeicherten Daten aushändigen. So kam Krause an eine Spotify-Playlist mit allen 200.000, die er in den letzten neun Jahren gehört hatte. Von Google habe er sich wiederum seine Standortdaten aushändigen lassen und hat diese mit dem Wetteraufzeichnungen verknüpft. So wollte er herausfinden, ob der Luftdruck an seinem Aufenthaltsort mit seinem Kopfweh zusammenhängt – was er übrigens nicht tat.

Viele Werte hat Krause wieder verworfen. "Aus denen konnte man kaum Zusammenhänge ableiten", sagt Krause. Schließlich gilt es, die Datensammelei nicht zum Selbstzweck werden zu lassen und das Ziel nicht aus dem Blick zu verlieren: Selbsterkenntnis.

Schlechte Stimmung durch Videocalls

Krause war vor allem daran interessiert, was seine Stimmung beeinflusst. Hier war es vor allem der Schlaf, der großen Einfluss hatte. Der wiederum wird durch viele andere Faktoren bestimmt. Auf Reisen, also wenn das Bett oft gewechselt wird, sinkt die Qualität. Statistisch belegt gute Stimmung machten ihm wiederum hohe Temperaturen, Lesen, Hörbücher und Alkohol – wobei Letzterer bei übermäßigem Konsum die Stimmung am Folgetag senkt, genauso wie zu viel Zeit in Videocalls oder sozialen Netzwerken.

Doch es gibt auch Kritik an der digitalen Selbstvermessung. Datenbanken wie die von Krause, in denen fast jeder Aspekt eines Lebens erfasst ist, klingen nach dem Albtraum jedes Datenschützers. Viele Anhänger des Selftrackings verwenden kommerzielle Apps, um ihr Leben zu erfassen. Diese versprechen zwar Sicherheit, aber es wäre nicht das erste Mal, dass private Daten in die falschen Hände fallen. Für Versicherungen, Arbeitgeber oder für Werbefirmen wären sie Gold wert.

Dass Krause so viele Daten über sich preisgibt, mag zunächst seltsam klingen – denn der IT-Experte deckte in der Vergangenheit bereits bedenkliche Datensammelpraktiken von Instagram, Tiktok und Co auf, DER STANDARD berichtete. Sein Selftracking-Projekt sieht Krause mit seiner Auffassung zu Privatsphäre und Datenschutz vereinbar. Man solle den Leuten die Kontrolle über ihre Daten geben, sagt er. Das Konzept der Hoheit über die eigenen Daten setze sich auch zunehmend durch: So verlassen die von iPhone-Usern gesammelten Gesundheitsdaten nie das Gerät. Auch Krause veröffentlicht einige Daten, die er sammelt, nicht auf seiner Website.

Kritik am Einheitsmenschen

Und dann wäre da noch die grundsätzliche, philosophische Kritik an Quantified Life. Lässt sich ein Leben so einfach in Zahlen fassen? Ist eine Clubnacht nicht mehr als eine Anzahl von Gläsern Bier und Tanzkalorien? Lässt sich eine Reise in Flugkilometern und Punkten verminderter Herzfrequenzvariabilität zusammenfassen? Wohl kaum.

Ein Leben nur in Zahlen zu quantifizieren würde den Menschen zur "Commodity" machen, einer seelenlosen Anhäufung von Daten, kritisierten Kommentatoren sinngemäß, bereits kurz nachdem die Quantified-Bewegung 2007 ausgerufen worden war.

Viele Zusammenhänge – schlechte Laune durch schlechten Schlaf – könnte man wohl auch mit dem eigenen Hausverstand statt mit Excel eruieren. "Stimmt grundsätzlich", sagt Krause. Doch manche Verknüpfungen erkenne man eben erst, wenn man sich selbst lange Zeit systematisch beobachte. Auch einige Studien bescheinigen, zumindest vorsichtig, dass das Tracken von Zielen helfen könnte, diese zu erreichen, etwa beim Abnehmen oder der körperlichen Fitness.

Studien, wie sich Kaffee, Fett, Rotwein, Schlaf oder Bewegung auf den menschlichen Körper auswirken, gibt es zuhauf. "Aber diese sind immer nur ein Durchschnitt von tausenden Menschen", sagt Krause. Jeder Mensch sei unterschiedlich – und anhand der eigenen Daten könnte man herausfinden, was einem selbst am besten tut. "Personal Science" nennen Quantified-Life-Anhänger das – und sie soll genau zum Gegenteil des Einheitsmenschen führen.

Hundert Variablen braucht es dazu gar nicht. Am meisten hat es Krause geholfen, täglich in sich zu gehen und die eigene Stimmung zu protokollieren. "Das kann ich nur jedem empfehlen", sagt er. Und das geht auch ganz analog. (Philip Pramer, 12.10.2022)