Im Alter bedient sich der Körper an den Gesundheitsressourcen, die man über das Leben hinweg aufgebaut hat.

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Wir werden immer älter. Das konfrontiert das Gesundheitssystem mit dominanten Herausforderungen: Wie kann alten Menschen ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden?

Bei gesundem Altern gehe es schließlich im Kern darum, die "höchstmögliche Lebensqualität mit der höchstmöglichen Autonomie" zu vereinen, sagt Thomas Dorner anlässlich der Fachveranstaltung "chronisch_konkret – Alter(n) und Pflege(n) neu gedacht", die am Donnerstag in Wien stattfindet. Der Public-Health-Experte ist seit 20 Jahren in der Gesundheitsförderungsforschung, seit August 2022 leitet er die Akademie für Altersforschung am Haus der Barmherzigkeit. Um möglichst lange gesund zu bleiben, müssen wir, so betont er, "spätestens ab unserer Geburt" Gesundheitsressourcen aufbauen. Denn wer viele Jahre gesund lebt, kann im Alter länger davon zehren.

STANDARD: Die österreichische Lebenserwartung liegt im Spitzenfeld, doch wenn es darum geht, möglichst viel Lebenszeit tatsächlich auch gesund zu verbringen, liegen wir deutlich unter dem EU-Schnitt. Wie kann das sein?

Dorner: Tatsächlich ließe sich bestimmt ein Mehr an Lebenszeit in Gesundheit in Österreich erreichen. Der Ländervergleich ist beim Thema Gesundheit allerdings nicht immer unproblematisch. In Studien zur Bewertung der Lebensqualität werden meist Befragungen herangezogen, bei denen Menschen subjektiv ihre Lebensqualität einschätzen. Die Beantwortungen sind somit immer kulturabhängig und Daten somit zwischen Ländern nicht optimal vergleichbar. Man darf diese Ergebnisse also nicht überinterpretieren.

STANDARD: Es ist also eh alles optimal im österreichischen Gesundheitssystem?

Dorner: Nein, das nicht. Es braucht einen Paradigmenwechsel. Im Moment wird unser Versorgungssystem ausschließlich als Reparatursystem verstanden, in dem die Defizite von Menschen verwaltet werden. Wenn man Probleme hat oder alt wird und mit verschiedenen Aktivitäten des täglichen Lebens nicht zurechtkommt, dann wird das versorgt. Das funktioniert ganz gut. Aber es ist Luft nach oben, wenn es um Prävention und Gesundheitsförderung geht: Wie kann man Gesundheitsressourcen aufbauen, sodass etwaige Defizite ausgeglichen werden?

STANDARD: Von welchen Ressourcen sprechen Sie?

Dorner: Gesundes Altern beginnt nicht im Pflegeheim, sondern spätestens bei der Geburt. Und es hört nie auf. Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheiten, sondern der Zustand eines subjektiven Wohlbefindens – sowohl körperlich als auch psychisch und sozial. Am Ende ist es immer eine Balance aus Gesundheitsressourcen und -belastungen. Wenn die Ressourcen höher sind als die Belastungen, gelingt ein gesundes Leben und somit ein gesundes Altern. Im Alter bedient sich der Körper an den Gesundheitsressourcen, die man über das Leben hinweg aufgebaut hat. Um diese Ressourcen aufzubauen, braucht es Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen. Dabei gibt es eine individuelle, aber auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Letztere ist wohl größer, weil strukturelle Veränderungen oft effektiver sind als individuelles Handeln. Am besten erforscht und am greifbarsten ist aber die individuelle Ebene, etwa der Lebensstil. Da erzähle ich nichts Neues: Die wichtigsten Faktoren sind ausreichend Bewegung, gesunde Ernährung und soziales Kapital.

STANDARD: Diese Faktoren kennt man. Bei allem, was über Bewegung und gesunde Ernährung hinausgeht, fehlt vielen aber schlicht das Wissen, wie ein gesundes Leben aussieht. Die Gesundheitskompetenz ist in Österreich im EU-Vergleich sehr schlecht.

Dorner: Man muss sich überlegen, ob nicht vielleicht das Gesundheitssystem auch so gestaltet ist, dass man sich nur schwer zurechtfindet.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Dorner: Ich sage es anders. Andere Länder haben ein klar strukturiertes Versorgungssystem, wo ganz klar ist: Die erste Anlaufstelle ist die Primärversorgung, und dort kümmert man sich um den ganzen Menschen. Das ist bei uns weniger stark ausgeprägt. Wir haben kein stark strukturiertes System, wo diese Pfade definiert sind und entsprechend klar ist, wie man sie durchläuft. Man tut sich als Patient oder Patientin schwer, da die richtigen Wege einzuschlagen. Das ist kompliziert, mit sehr viel Wartezeiten und in der Folge auch mit sehr viel Frust verbunden.

STANDARD: Wie hat die Pandemie den Aufbau der Gesundheitsressourcen beeinflusst?

Dorner: Die Pandemie hat gezeigt, wie alle Faktoren, die eine Auswirkung auf die Gesundheit haben, zusammenhängen. Ältere Menschen waren besonders betroffen. In Pflegesettings, wo sie kaum besucht werden konnten, aber auch außerhalb, sind alte Menschen sozial sehr verarmt. Sozialer Rückzug führt zu körperlichem Rückzug und dazu, dass viele Funktionen verloren gehen. Und auch bei jüngeren Menschen gibt es nachhaltige Veränderungen. Die Umstellung auf Homeoffice und die Digitalisierung der Arbeit hat viele positive Auswirkungen, aber nicht alle Auswirkungen sind auch für unsere Gesundheitsressourcen positiv. Wenn wir nicht täglich von zu Hause zum Arbeitsplatz kommen müssen, bewegen wir uns weniger.

STANDARD: Ein großes Problem einer immer älter werdenden Bevölkerung ist auch, dass es zu wenig Pflegekräfte gibt. Wie blicken Sie angesichts des Pflegenotstands in die Zukunft?

Dorner: Man sollte so etwas wie eine Pflegeprävention anstreben, das heißt: Die Selbstständigkeit bei alten Menschen so lange aufrechterhalten, dass es gar nicht erst zu einem Versorgungsnotstand kommt. Aber auch wenn alle gesetzten Maßnahmen dahingehend erfolgreich und effektiv sind, wird der Pflegebedarf aufgrund der demografischen Entwicklung immer mehr steigen. Altern betrifft jetzt schon viele Menschen und wird immer mehr betreffen. Auf der anderen Seite gibt es immer weniger Menschen, die eine Ausbildung im Pflegebereich machen. Es geht sicher auch darum, den Beruf attraktiver zu machen – etwa mit entsprechender Entlohnung und sozialer Anerkennung. Dafür bräuchte es eine Imagekorrektur. (Magdalena Pötsch, 4.10.2022)