Als Sozialistin und Jüdin vielfachen Formen der Verfolgung ausgesetzt: "Das Verhör III" (1933/1934) lautet der Titel dieser dämonischen Arbeit von Friedl Dicker-Brandeis.

Universität für Angewandte Kunst

"Ich habe grade die Tatsachenberichte aus Deutschland gelesen! Wo sollen diese Menschen hin?!", schrieb Friedl Dicker-Brandeis an den Maler Hans Moller. Weiß man um ihre Biografie, liest sich das wie ein dunkler Vorbote ihres eigenen Schicksals. Heute liegt der Brief unschuldig platziert auf einem großen weißen Tisch in der Galerie der Universität für angewandte Kunst Wien, neben Meldezetteln, Entlassungspapieren und unzähligen anderen Schreiben der Künstlerin.

Friedl Dicker-Brandeis wurde 1898 in Wien geboren und 1944 in Auschwitz ermordet. In der Kunstgeschichte lange nur in Verbindung mit Franz Singer wahrgenommen, widmete ihr das Lentos in Linz Anfang des Jahres eine großflächig angelegte Werkschau. Nun zeigt die Angewandte eine tiefer gehende Studienausstellung über Leben und Schaffen der multimedialen Künstlerin. Zusammen mit Stefanie Kitzberger und Robert Müller hat Leiterin Cosima Rainer ein sensibles Konzept erarbeitet, das nicht linear verläuft, aber die einzelnen Stationen des Œuvres sichtbar macht. Die umfassende Sammlung der Universität ist eng mit dem Engagement des früheren Rektors Oswald Oberhuber verbunden, der sich für die Reetablierung von Avantgardekünstlerinnen eingesetzt hatte.

Das Private ist politisch

Das Private ist politisch. Der Slogan wurde zwar erst in den Siebzigern geboren, doch seine Essenz ist schon bei Dicker-Brandeis vorhanden. Große Glasnegative zeigen die vermutlich zerstörten Collagen, in denen sie die sozialen Krisen der 1930er-Jahre thematisiert.

Sie rückt soziale Reproduktion, Kinderarmut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot in den Fokus und macht damit auch ihre politische Haltung explizit. Die spitze Kritik an der Wohnungspolitik des Roten Wiens ("Mit einer Wohnung kann man einen Menschen erschlagen") verdeutlicht, wie weit links sie sich wohl positionierte. Ihr Schaffen ist wahnsinnig breit gefächert, neben Collagen reihen sich Kohlezeichnungen an Leinwandmalereien, Textilarbeiten an grafische Entwürfe.

Hätte Dicker-Brandeis ein Kontaktbüchlein hinterlassen, läse es sich wie das Who’s who der Wiener Kunst- und intellektuellen Szene des frühen 20. Jahrhunderts. Der Zusammenarbeit mit Franz Singer widmet das Wien-Museum ab November eine eigene Ausstellung, mit Kunsttheoretiker Johannes Itten stand sie in engem Kontakt.

Die Universitätsgalerie zeigt Briefe an die Kunsthandwerkerin Anny Wottitz und ein Porträt der Pädagogin Lia Laszky-Swarovsky. Die zahlreichen Stationen im Leben der Künstlerin sind erstaunlich. Sie lernte an der Graphischen und der Angewandten, im Bauhaus. War involviert in die Jugendbewegung rund um Psychoanalytiker Siegrid Bernfeld und belegte ein Kompositionsseminar bei Arnold Schönberg. Rainer und ihrem Team gelingt hier ein aufschlussreicher Konnex ihres nicht ganz so leicht erschließbaren Lebenslaufs.

Holzplatte mit Draht

Nicht nur für die Vielfältigkeit der Ausstellung ist der letzte der insgesamt sieben Schauräume bezeichnend. Unscheinbar hängt hier ein einziges kleinformatiges Bild. Eine negative und positive Variation derselben Form von einem Kraftfeld gehalten, so der sperrige Titel dieser experimentellen Arbeit. Sie hämmerte Nägel in eine Holzplatte, spannte Draht und Schnüre und malte mit Gouache. Dieses kleine Bild an der großen, weißen Wandfläche zeigt Friedl Dicker-Brandeis’ Interesse an medienübergreifender Arbeit, und es verdeutlicht zugleich das Bestreben der Kuratorinnen, sie nicht in Vergleich mit zeitgenössischen Positionen zu setzen. Ihr Werk soll für sie selbst sprechen. (Caroline Schluge, 5.10.2022)