Eine Blumenverkäuferin trägt Kübel voller Rosen vor ihr Geschäft. Sie stellt sie zwischen Olivenbäumchen und Rosmarin auf dem Boden ab. Auch Ziergurken sind im Angebot. Ein rotblonder Bursche sitzt auf einer Bank und schnorrt Passanten um ein paar Münzen an. Noch sind wenige unterwegs. Ein windiger Morgen an der schönsten Ecke des Stephansplatzes, beim "Hintern" des Doms, wo Geräusche von Meißeln von einem Baugerüst zu hören sind. Stakkato.

Punkt 8.30 Uhr taucht Jude Manuel auf. Er lächelt. "Jude, wie Jude Law", erklärt er seinen Vornamen und schüttelt einem die Hand. Manuel ist einer von drei Männern, die oben in der Türmerstube des Doms Dienst tun. 343 Stufen über dem Platz. "Sieben mal sieben mal sieben, das ergibt 343. Sieben ist eine heilige Zahl, Sie wissen schon", erläutert der Türmer beim Eingang zum Südturm. Ob er gläubig ist, wird Jude Manuel später und 67 Meter höher verraten, oben in seiner Stube. Seit 17 Jahren arbeitet er dort, sein Rekord liegt bei neun Besteigungen an einem einzigen Tag. Gut zwei Millionen Stufen dürfte Jude Manuel auf seinem beruflichen Buckel haben. Pi mal Daumen. Ob er Reinhold Messner in Sachen Höhenmeter in den Schatten stellt?

Schlüsselbund und Rolltreppe

Flotten Schrittes steigt der Türmer die schneckenhausartige Wendeltreppe nach oben. Immer wieder sind Federn von Tauben zu sehen. "Normalerweise bin ich viel schneller, nehme zwei Stufen auf einmal", sagt er. Gut, dass nicht normalerweise ist, denkt man. Als er erwähnt, vor Dienstantritt auch noch ins Fitnessstudio zu gehen, entfährt einem ein leises "Pffft!". Als hätte Manuel es gehört, erwidert er: "Wir haben noch nicht einmal die Hälfte." Der Fotograf, der beim Aufstieg dabei ist, scheint verlorengegangen zu sein. "Wahrscheinlich Raucher", meint der Stufenprofi.

343 Stufen führen zu Jude Manuels Arbeitsplatz.
Foto: Christian Fischer

Man dreht sich also weiter himmelwärts durch das enge Gemäuer aus Sandstein, ehe es licht wird und der Dom eine erste Aussicht auf die Stadt preisgibt. Manuel setzt sich auf eine kleine abgewetzte Sitzbank, das sogenannte "Starhemberg-Bankerl". In seiner Hand trägt er einen stattlichen Schlüsselbund. Der Schlüssel für die Türmerstube scheint so groß wie alt. Das "Bankerl with a view" erinnert an Ernst Rüdiger Graf von Starhemberg. Von hier aus soll der einstige Stadtkommandant 1683 die Truppenbewegungen der türkischen Armeen beobachtet haben. Heute ist es Manuels "Lieblingsplatz", wie er erklärt, entspannt, als hätte ihn eine Rolltreppe hier heraufgetragen.

Ein paar Meter weiter liegt die Glockenstube. An diesem Ort hing bis zu den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs die alte Pummerin, die beim Dombrand samt Glockenstuhl in die Tiefe stürzte und für alle Zeiten verstummte. Von hier sind es nur noch wenige Katzensprünge bis in Manuels Reich, wo er zwei- bis dreimal pro Woche Dienst tut. Von neun bis 18 Uhr. Früher war er deutlich öfter im Einsatz. Mittlerweile hat er auch andere Jobs im Dom übernommen.

Rosenkranz und Graffiti

Es ist also geschafft, ganz ohne zusätzlichen Sauerstoff. Der Raum wirkt nicht wirklich gemütlich, und doch trägt er den Namen Stube zu Recht. Er misst 46 Quadratmeter, das Gewölbe, an dem Laternen hängen, wird von vier Säulen getragen. Die Grundform der Stube beschreibt ein Oktogon, also die Form der Vollkommenheit und göttlichen Perfektion, wie der Besucher erfährt. Auf den Mauern sind zahlreiche Graffitis zu erkennen. Eines ist in russischer Sprache verfasst und mit dem Datum 30. 7. 45 versehen. Wahrscheinlich ein russischer Besatzungssoldat. Auch die Namen von Türmern wurden eingeritzt. Ob Jude Manuel hier irgendwann zu lesen sein wird? "Vielleicht. Eines Tages."

Zahlreiche Graffiti zieren die Mauern. Darunter eines in russischer Sprache – wahrscheinlich stammt es von einem russischen Besatzungssoldaten.
Foto: Christian Fischer

Manuel setzt sich an seinen Arbeitsplatz, eine Art Schreibtisch, der auch als geräumiger Ladentisch dient. Der 42-Jährige thront in der Mitte, als wäre er ein Vorstandsvorsitzender. Sein Job ist es, unter anderem Souvenirs an Mann, Frau und Kind zu bringen. Feilgeboten werden Postkarten, Feuerzeuge, Kühlschrankmagneten, Fläschchen, Anhänger, Glöckchen und allerlei anderer Kramuri. Bei Erwachsenen gingen Rosenkränze am besten, bei Kindern kleine Modelle des Doms um 3,20 Euro. "Vor allem amerikanische Touristen sind enttäuscht, dass es hier oben keine Cafeteria gibt", erzählt Manuel kopfschüttelnd. Das eigentliche Lockmittel hier oben besteht freilich aus der Aussicht. Auf Postkarten wird dieser wahrscheinlich häufig als "atemberaubend" beschrieben.

Hübsches Sümmchen

Noch ist es ruhig an diesem Morgen. Nur tröpferlweise wird die Stube betreten. Die Ankömmlinge zeigen einen gewissen Anflug von Zufriedenheit, als hätten sie einen Gipfel bezwungen. Mitten in der Stadt. Ein paar Stunden später werden sich hier Menschen aus aller Welt tummeln und an den vier Fenstern drängeln. "Es kommt schon vor, dass ich unten anrufe und sage, dass sie den Zugang drosseln sollen. Auch das ist meine Aufgabe", erklärt Manuel. Vor allem mehrere Schulklassen auf einmal würden immer wieder für Verstopfung sorgen. Im Schnitt wagen täglich 300 bis 400 Menschen die Vertikalwanderung. An den Wochenenden verdopple sich die Zahl. Das bringt bei einem Eintrittspreis von 5,50 Euro für Erwachsene ein hübsches Sümmchen für die Domkasse.

Zigtausende Menschen besteigen jährlich den Südturm des Stephansdoms.
Foto: Christian Fischer

Es ist erstaunlich: So klein und schmal die Fenster von unten, also vom Stephansplatz aus, betrachtet scheinen, hier oben werden sie zu faszinierenden Gucklöchern in alle vier Himmelsrichtungen. Gucklöchern, die staunen lassen und zu einer Art Kaleidoskop der Stadt werden. Die Menschen dort unten gleichen kleinen Punkten in einem Labyrinth aus Gassen und Plätzen. Sie sind bewegliche Teile eines dreidimensionalen Wimmelbilderbuchs. Jedes der vier Fenster wird zu einer neuen, schier endlos scheinenden Buchseite. Egon Erwin Kisch schrieb in seiner Geschichte "Eine Nacht beim Türmer von St. Stephan": "In jedem der vier Fenster ein anderes Gemälde, ein anderes Sujet, eine andere Farbentönung. Fantasien von Dächern, Giebeln, Kuppeln, Straßen, Mauern, Bergen, Wäldern sind in launischen Perspektiven auf eine grenzen lose Leinwand gepinselt ..."

Nebel und Regen

Ob Manuel den Ausblick nach all den Jahren noch wahrnimmt? "Oh ja, vor allem zur Weihnachtszeit schau ich sehr gern hinaus, wenn es bereits am Nachmittag dunkel wird und ich die Lichter der Stadt sehe." Außerdem gehöre es auch zu seinem Job, Ausschau zu halten. Wenn dichter Nebel die Stadt zudeckt oder starker Regen niederprasselt, gibt er diese Info zur Kassa durch. "Es soll niemand raufsteigen und enttäuscht sein, wenn das Wetter nicht mitspielen will."

Feilgeboten werden Postkarten, Feuerzeuge, Kühlschrankmagneten, Fläschchen, Anhänger, Glöckchen und allerlei anderer Kramuri.
Foto: Christian Fischer

Es gibt hier allerdings noch andere Aussichten. Über Manuels Arbeitsplatz zeigt sich ein Bildschirm, auf dem vier Kameraeinstellungen vom Aufstiegsweg zu sehen sind. "Es gab hier schon Todesfälle." Der Türmer erzählt von einem Touristen, der nach einem Notfall unweit der Stube in seinen Armen gestorben sei. "Zuvor war er noch mit seiner Frau bei mir oben, und wir haben uns sehr nett unterhalten. Ich brauchte einige Zeit, um diesen Vorfall zu verdauen. Inzwischen gibt es einen Defi", sagt Manuel und deutet auf eine Art Rucksack über einem Schrank. Seit einigen Jahren sei Gott sei Dank nichts dergleichen mehr geschehen, erzählt er, während ein kühler Wind vom Nord- zum Südfenster zieht.

Früher war die Job-Description für Manuels Arbeitsplatz in erster Linie auf Katastrophen ausgerichtet. Bis 1956 hielten die Leute hier oben über Jahrhunderte Ausschau nach ausbrechenden Feuersbrünsten, waren eine Art archaische Feuermelder. Spuren dieser Zeit sind eine Fahne und eine Laterne. Auch ein Sprachrohr, durch das "Feurio" geschrien wurde. Später haben andere diesen Job übernommen. Und modernere Techniken.

Stilles Örtchen und Aliens

Apropos Technik: Was am meisten nerve, sei die häufig gestellte Frage, wie und wo er auf die Toilette gehe. Also wie und wo, Herr Manuel? Er grinst und zeigt auf eine unscheinbare Türe, hinter der sich ein Klo befindet. Aber Obacht! Erwachsenen ist es nicht gestattet, dort ihr Geschäft zu verrichten. Bei Kindern mache er eine Ausnahme. Was es sonst noch an Annehmlichkeiten gibt? Eine Mikrowelle und einen Kühlschrank. Und eine Fußbodenheizung.

Seit 17 Jahren arbeitet Jude Manuel dort, sein Rekord liegt bei neun Besteigungen an einem einzigen Tag.
Foto: Christian Fischer

Wenn wenig los ist, schnappt sich Manuel seinen Laptop, erledigt Arbeit im Dienste des Doms oder beschäftigt sich mit Biologie. Im Moment steht die menschliche Anatomie im Zentrum seines Interesses. Außerdem liest er gerade ein Buch, in dem es um die Existenz von Außerirdischen geht. Ob das mit dem katholischen Glauben vereinbar sei? Fassen wir seine Antwort folgendermaßen zusammen: Jude Manuel versteht sich als aufgeklärter Katholik. Außerdem stehe er morgens um fünf Uhr auf, um in der Bibel zu lesen. Und dann geht’s ab ins Fitnesscenter. Eh schon wissen.

Nachdem sich die Wendeltreppe beim Abstieg flott nach unten drehte und die kleine Tür einen wieder auf den Stephansplatz ausspuckte, richtet sich der Blick noch einmal hin auf zu den Fenstern der Türmerstube. Zu einer kleinen Welt, von der aus sich die große ein schönes Stück weit entdecken lässt. 343 Stufen himmelwärts. Hat das eigentlich jemand nachgezählt? Jude Manuel bestimmt. (Michael Hausenblas, 5.10.2022)

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