Salzburger Autorin Helena Adler: Grauen des Landlebens.

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Am Unheil der Situation ihrer Hauptfigur lässt Autorin Helena Adler keine Zweifel aufkommen. "Blasenentzündungsfüße" hat sie, unter denen sich die Dielen "aufwölben, als würden Tote ihre Gräber aufschlagen". Auf dem Küchenherd köcheln Rinderteile, und zwar nicht die feinen, es gebe nur "Schürzenträger und Schürzenjäger", bläut die Mutter dem Kind ein.

"Fretten" heißt sich plagen, und genau das ist der jungen Heldin im gleichnamigen Roman beschieden. Im ländlichen Salzburg tut sich eine archaische Welt auf – heute seltsam urwüchsig klingend. Auf dem Bauernhof (Pfaue stolzieren herum wie "bessere Hühner") wohnen vier Generationen. Die Schwiegermutter macht die angeheiratete Mutter besonders fertig: Nichts entgeht ihr, sie konkurriert (Essen!) mit der Schwiegertochter zudem um die Gunst des Kindes. Dieses ("frosthart") plagen Albträume und "Herkunftshader".

Käsereierben und Nichtsnutze

Ländliche Antiidylle mit subversiven Tönen war schon im Erfolgsbuch Die Infantin trägt den Scheitel links (2020) Adlers Thema. In diese Kerbe schlägt die 1983 geborene Autorin mit Fretten erneut. Die Handlung ist dabei eher kursorisch und spielt auf der Schattseite des Landlebens: Ein "küssender Käsereierbe" tritt auf, es gibt unglücklich alleinstehende Hoferben, Bank- und Beichtgeheimnis werden nur "nach Gutdünken" eingehalten, die Kellnerinnen heißen "nicht umsonst Bedienung", was die Männer des Orts als Einladung zur Selbstbedienung an ihnen interpretieren. Allerheiligen? Ein Event wechselseitiger sozialer Kontrolle. Männer sind nichtsnutzig, Frauen sogar missgünstig.

Wer hier aufwächst, ist schon verloren; wer Frau ist, ist zudem eine Bedürfnisbefriedigungsverpflichtete. Damit bespielt Adler ein Genre, das hierzulande große Tradition hat. Unmittelbar fühlt man sich an Werke Elfriede Jelineks wie Lust und Die Kinder der Toten erinnert: Auch wegen Adlers Sprache, die die Heldin (flugs vergehen im schmalen Buch die Jahre) nicht nur Mutter, sondern, mehr als das, "Märtyrermutter" und "Übermutter" eines Sohnes werden lässt. Das eröffnet zwischen Stillverpflichtung (Muttermilch ist "Säuglingssubstral") und Großmütterabwehr eine neue Kampffront für die Strauchelnde.

Bissige Kunststücke

Weil Fretten zur Welt in einem Verhältnis der permanenten Übertreibung steht, vereindeutigt es seine Charaktere zu Schablonen. Figurenpsychologie gilt weniger als Typologien. Viel ist trotzdem scharf beobachtet.

Ständig kollidieren in diesem 192-seitigen Sprachstunt abgegriffene Sprichworte, kollabieren erzieherische Phrasen, rotieren Doppeldeutigkeiten. Fretten ist wie eine Vitrine, vollgefüllt mit bissigen Beschreibungskunststücken. Vielleicht liegt etwas Staub auf ihr, vielleicht ist sie zu voll. Man wird neben Originellem auch einige Gemeinplätze entdecken. Der Schauwert ist aber enorm. (Michael Wurmitzer, 5.10.2022)