Wie die Philosophie sich als Sammlung von Anmerkungen zu Plato verstehen lässt, mag die moderne Physik als eine Sammlung der Irrtümer Einsteins anmuten. Seien es Schwarze Löcher, Gravitationswellen, Gravitationslinsen oder die Urform der kosmologischen Konstante, die er überhaupt seine "größte Eselei" nannte, überall lässt sich eine Fehleinschätzung des genialen Physikers finden, wobei es etwa bei Gravitationslinsen nur um Zweifel an der experimentellen Beobachtbarkeit der Effekte ging – einen Fehler, den er etwa mit Wolfgang Pauli teilte, dem letzten österreichischen Physiknobelpreisträger vor Zeilinger, der die prinzipielle Beobachtbarkeit des von ihm postulierten Neutrinos infrage stellte.

Auch bei der Präsentation des diesjährigen Physiknobelpreises tauchte auf dem Schirm das Bild Einsteins auf. Und während die anderen genannten Irrtümer als Anekdoten gelten dürfen, die dem Ruhm des genialen Physikers nichts anhaben können, ging es bei den Nobelpreisen des Jahres 2022 um eine Reihe von Fehleinschätzungen von viel größerer Tragweite.

"Gott würfelt nicht" – dieses berühmte Zitat Einsteins nahm bei der Präsentation der diesjährigen Nobelpreise einen prominenten Platz ein.
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Einsteins größte Leistung als Forscher mag die Allgemeine Relativitätstheorie sein, doch die ersten Arbeiten, für die er größere Anerkennung (und später den Nobelpreis) bekam, betrafen den Photoelektrischen Effekt. Seine sonderbare Verbindung von Wellen- und Teilcheneigenschaften legte das Fundament für die Quantenphysik. Andere bauten darauf auf, doch schon bald sollte er mit ihnen in Konflikt kommen.

Ein Schwätzchen mit Werner Heisenberg

1926 hielt der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg in Berlin einen Vortrag vor einer Reihe von Nobelpreisträgern, darunter Albert Einstein. Heisenberg hatte drei Jahre zuvor, noch vor Erwin Schrödinger, einen Formalismus gefunden, der die lange gesuchte Gleichung zu sein schien, mit der sich erstmals vollständige Vorhersagen über die Vorgänge in Atomen machen ließen.

Später lud Einstein Heisenberg noch zu sich nach Hause ein und begann ihn freundlich zu seinem Vortrag zu löchern. Nach und nach stellte sich heraus, was Einstein beschäftigte: Heisenbergs Rechnungen brachten korrekte Ergebnisse, gaben aber keinen Einblick in die tatsächlichen Vorgänge im Atom. Zu Fragen nach der Bahnkurve eines Elektrons wich der junge Heisenberg aus, sich zunehmend dessen bewusst, dass es sich nicht nur um einen netten Plausch handelte. Er behauptete, dass die Bahnkurve egal sei. Eine gute Theorie solle ohnehin nur Größen enthalten, die sich beobachten lassen.

Einstein um 1905, als seine bahnbrechenden Arbeiten zu Spezieller Relativitätstheorie und Quantenphysik erschienen.
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"Sie glauben doch nicht wirklich, dass nur beobachtbare Größen in eine Theorie eingehen?", platzte es aus Einstein heraus. Heisenberg gab selbstbewusst zurück: "Haben Sie es nicht bei der Relativitätstheorie genauso gemacht?"

Debatte mit Niels Bohr

Diese Frage – ob es bei den kleinsten Bausteinen der Materie, die immerhin seit der antiken Naturphilosophie traditionell die ganze Welt erklären sollen, genügt, die Ergebnisse von Experimenten zu kennen, ohne einen Einblick in das tatsächliche Geschehen zu gewinnen – sollte zu einer großen Debatte in der Welt der Physik führen, die wesentlich zwischen Einstein und dem Dänen Niels Bohr geführt wurde. Letzterer übernahm die Führung in der Einstein entgegengesetzten Fraktion neuer Quantenphysiker wie Heisenberg.

Der Streit wurde als Wettkampf der Gedankenexperimente (übrigens im Englischen als deutsches Fremdwort gebraucht) ausgetragen, mit denen vor allem Einstein immer wieder auf die weitreichenden Implikationen der neuen Konzepte aufmerksam machen wollte, die Bohr so leichthin als wissenschaftlichen Standard festschreiben wollte.

Eines der letzten und das vielleicht wichtigste dieser fiktiven Experimente ist jenes zweier Teilchen – es können Lichtteilchen, aber auch andere Teilchen sein –, die gemeinsam entstehen und in unterschiedliche Richtungen fliegen, wobei gewisse Eigenschaften miteinander verknüpft bleiben – der von Erwin Schrödinger geprägte Begriff dafür lautet "Verschränkung". In einem grandiosen Moment österreichischer Fernsehgeschichte erklärte Zeilinger am Tag der Verkündung seiner Auszeichnung in der "Zeit im Bild 2" einem sichtlich begeisterten Martin Thür das Experiment mit zwei Zwillingen. Sie entstünden gemeinsam und teilten sich viele Eigenschaften. Bei den Teilchen sei das ähnlich, nur kämen die Eigenschaften quasi aus dem Nichts.

Konkret ist über die beiden Teilchen nämlich nur bekannt, dass sie gekoppelt sind – misst man die Eigenschaften des einen, kennt man die des anderen. Das ist bei Zwillingen, denen man noch nie begegnet ist, genauso. Entscheidend ist aber die Behauptung der Quantenphysik, dass die Eigenschaften der beiden Teilchen vor der Messung noch nicht festgelegt seien. Sie entstünden erst im Moment der Messung, und zwar rein zufällig, wobei es genüge, die Eigenschaften von einem der beiden zu messen.

Spukhafte Fernwirkung

Dieses Zufallselement war ein großer Kritikpunkt Einsteins, der in einem Ausspruch gipfelte, dass "der Alte" – Gott – nicht würfle. In diesem Fall glaubte er aber, ein noch viel schlagkräftigeres Argument zu haben: Wie er 1935 mit seinen beiden Kollegen Boris Podolsky und Nathan Rosen argumentierte, steht die Quantentheorie hier mit seiner Relativitätstheorie im Konflikt. Würden die Eigenschaften der beiden Teilchen wirklich erst bei der Messung festgelegt, so müsste diese Information laut Quantentheorie schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden – durch eine "spukhafte Fernwirkung", wie Einstein es nannte.

Einstein plädierte dafür, dass es "versteckte Variablen" geben muss und die Situation eben doch zwei Zwillingen ähnelt, die man einfach noch nicht kennt, die aber trotzdem von Beginn an in Fleisch und Blut existieren.

Doch Bohr wollte das nicht akzeptieren. Die Erfolge der experimentellen Überprüfung der Quantenphysik schlossen mehr und mehr die Tür für solche Alternativen. Angesichts der von den Forschenden gelobten Eleganz des mathematischen Formalismus erschienen Einsteins aufgrund philosophischer Überlegungen eingeforderte Ergänzungen wie ein Fremdkörper. Bohr erkannte, dass die Theorie abgeschlossen ist und wollte die Ergänzungen auf ein Minimum beschränken.

"Die Jungen mögen mich für senil halten", schreib Einstein in einem Brief an Niels Bohr. Von seinen Einwänden gegen die derzeitige Form der Quantenphysik wollte er dennoch nicht abweichen.
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"Sie glauben, dass Gott mit Würfeln spielt, ich hingegen vollständig an Gesetze und Ordnung in einer Welt, die objektiv existiert", schrieb er 1944 an Bohr. "Eines Tages werden wir sehen, wessen Instinkt sich als richtig erweist."

Für Bohr ging es auch persönlich um viel – durfte er als Mitarchitekt der Theorie der kleinsten Bausteine der Materie gelten? Oder war die vermeintliche Theorie nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer künftigen, die objektive Wirklichkeit erklärenden Theorie, von der Einstein träumte?

Fürs Erste schien sich die von Bohr propagierte "Kopenhagener" Interpretation der neuen Physik durchzusetzen, trotz aller Warnungen Einsteins. Doch bei vielen Forschenden blieb Unbehagen, und die Öffentlichkeit blieb angesichts der vielen kryptischen Gedankenexperimente ratlos zurück – wenn selbst die klügsten Köpfe feststellen, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt, kann sich dann nicht ohnehin jeder seine eigene Realität bauen?

Ein Experiment entscheidet

Die Physik schien hier auf Glatteis zu geraten und sich in Fragen zu verlieren, die nicht mit Experimenten zu klären sind. Umso überraschender kam die Arbeit eines nordirischen Physikers namens John Bell, der 1964 zeigte, wie die Frage nach den "versteckten Variablen" vielleicht doch einem Experiment zugänglich gemacht werden könnte. Dieses Experiment wurde zuerst von John Clauser und dann in noch stärkerer Form von Alain Aspect umgesetzt – mit dem Ergebnis, dass Einstein unrecht hatte. Anton Zeilinger gelang es, die Methoden weiterzuentwickeln und zu zeigen, wie sich der "Spuk" für aufregende technische Anwendungen nutzen lässt, etwa absolut sichere Verschlüsselungstechnologien.

Einstein war sich seiner Rolle als Spielverderber wohl bewusst und scherzte, dass man ihn wohl für senil halten müsse. Trotzdem hielt er bis zu seinem Lebensende an seinen Einwänden gegen die Quantentheorie fest. Sein zentrales Argument war, dass die Quantenphysik unvollständig sei. Auf physikalischer Ebene irrte er – es gibt keine versteckten Variablen, die einen Einfluss auf das Ergebnis hätten. Das Verdienst, das gezeigt zu haben, kommt den drei Trägern des heurigen Nobelpreises zu.

Was die philosophische Ebene angeht, so sagte der nie um eine spitze Bemerkung verlegene Physiker Richard Feynman einmal zur Quantenphysik: "Niemand versteht es." Zeilinger formulierte es bei der Verkündungszeremonie diplomatischer: "Viele Fragen über die Realität sind immer noch unbeantwortet." (Reinhard Kleindl, 5.10.2022)

Video: Physiknobelpreis für Zeilinger: "Man muss seinen Spinnereien vertrauen"
DER STANDARD