Flammen und Explosionen – aber keine Erklärung. Ein fehlgeschlagener Raketentest sorgte am Mittwoch in Südkorea für Sorgen und Spekulationen.

Foto: Reuters / Kim Hee Soo

Pjöngjang/Seoul – Hohe Flammen, taghelle Lichter und laute Explosionen. Bewohner der südkoreanischen Küstenstadt Gangneung nahe der Grenze zu Nordkorea wurden in der vergangenen Nacht unsanft aus ihrem Schlaf gerissen – und konnten dann vielfach nicht mehr einschlafen. Stattdessen schlugen nervöse Nachrichten im südkoreanischen Twitter-Pendant Naver auf. Weiß jemand, was passiert ist?

Stundenlang gab es darauf keine Antwort, Südkoreas Regierung hatte eine Nachrichtensperre verhängt. Der Krieg, in dem sich manche schon wähnten, ist zum Glück nicht ausgebrochen. In den Morgenstunden entschuldigte sich die Regierung und nannte zugleich den Grund für das Feuer: Ein Raketenstart war während der laufenden Militärübungen mit den USA fehlgeschlagen. Verletzt wurde den Angaben nach niemand.

Dass die Nervosität groß ist, hat aber nicht nur mit dem unerwarteten Knall und Feuer zu tun. Denn schon in den vergangenen Tagen und Wochen sind die Spannungen zwischen den USA, Südkorea und dem totalitären Nachbarn im Norden wieder gewachsen. Insgesamt fünf Raketen hat Nordkorea in den vergangenen Tagen getestet, eine davon flog in einer bewusst provokanten Geste in der Nacht auf Dienstag über Japan hinweg. Zugleich setzten auch die USA auf verstärkte Abschreckung. Am Mittwoch wurde bekannt, dass Washington den Flugzeugträger USS Ronald Reagan erneut in die Region entsendet.

Video: Nordkorea schießt Rakete über Japan
DER STANDARD

Es wird wieder geübt

Aktueller Hintergrund der Spannungen sind die großangelegten Militärübungen Südkoreas mit den USA, die beide Staaten nach jahrelanger Pause heuer wieder aufgenommen haben. Beide Länder betonen zwar den defensiven Charakter der Manöver, Nordkorea aber sieht sich durch den Aufmarsch an seinen Grenzen bedroht und nimmt die Übungen als Proben für eine Invasion wahr. Die Manöver waren 2018 abgesagt worden, um die Annäherung zwischen der US-Regierung Donald Trumps und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un beim Gipfel in Singapur zu erleichtern. Trump hatte sie 2019, trotz des Scheiterns eines weiteren Gipfels in Hanoi, erneut abgesagt. In den folgenden Jahren fielen sie der Corona-Pandemie zum Opfer, 2021 fanden kleinere gemeinsame Manöver statt.

Dass die Übungen heuer wieder stattfinden, hat mehrere Gründe. Zum einen ist da der militärische Aspekt: Handlungsabläufe und Prozesse müssen gelegentlich trainiert werden, um im Ernstfall schnell abrufbar zu sein – vor allem dann, wenn man sie schon einige Jahre nicht mehr geübt hat. Das, so betonen die Militärs beider beteiligter Staaten, sei unverzichtbar, um sich notfalls verteidigen zu können.

Keine Liebesbriefe mehr

Vor allem aber hat sich das politische Umfeld geändert: Nordkorea hat sein 2018 selbstauferlegtes Moratorium auf Tests von Langstreckenraketen vor Monaten aufgegeben. Machthaber Kim hat mehrfach angedeutet, dass er sich auch nicht mehr an die Vereinbarung gebunden fühlt, auf Atomtests zu verzichten.

Zudem gibt es nun anderes Personal: Statt Ex-Präsident Moon Jae-in, einem prononcierten Vertreter der Friedensbewegung, regiert in Südkorea seit Sommerbeginn der Konservative Yoon Suk-yeol. Er betont die Wichtigkeit der Allianz mit den USA und setzt auf Abschreckung. Dass er im Wahlkampf über einen südkoreanischen Enthauptungsschlag gegen die Führung Nordkoreas fabuliert hat, ist in Pjöngjang nicht gut angekommen – auch wenn Militärs schnell betonten, dass ein solcher Angriff taktisch unklug und daher unwahrscheinlich wäre. Er trifft auf einen neuen US-Präsidenten. Joe Biden teilt Trumps Begeisterung für den persönlichen Kontakt mit Diktatoren nicht. Statt des Austauschens schwärmerischer Briefe gibt es seit seinem Amtsantritt vor allem eines zwischen den USA und Nordkorea: frostige Stille.

Moskauer Freundschaft

Zusätzlich ermuntert fühlt sich Nordkorea durch das internationale Umfeld. Die USA, so meint man in Pjöngjang, seien durch den Ukraine-Krieg abgelenkt und für eine weitere Krise nicht bereit. Die Spannungen in Europa facht man, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten, gerne weiter an. Schon im März entsandte das Regime eine Delegation nach Moskau, den völkerrechtswidrigen Anschluss mehrerer ukrainischer Regionen an Russland will man anerkennen. Zum Dank stützt Moskau Nordkoreas Provokationen: Die Raketenabschüsse nannte man "verständlich", beim UN-Handelsembargo schaut man nicht so genau hin, und vor dem UN-Sicherheitsrat hält man Nordkorea den Rücken frei – so wohl auch bei einer von den USA beantragten Sitzung in der Nacht auf Donnerstag.

Dass man in Moskau einen neuen Atomtest Nordkoreas lauthals verurteilen würde, gilt nicht mehr als sehr wahrscheinlich. Über einen solchen wird seit Monaten spekuliert. Die USA haben mehrfach davon gesprochen, dass man Vorbereitungen beobachtet habe. Wann er stattfinden könnte, ist aber offen. Grundsätzlich geht man davon aus, dass Pjöngjangs wichtiger Nachbar und Handelspartner China vor dem Parteitag von 16. bis 22. Oktober keine noch schwerere Krise im Nachbarland wünscht – und dass Pjöngjang dies auch akzeptieren wird. Sicher ist das aber nicht. Denn hielte sich Nordkorea stets an die Wünsche des Nachbarn, hätte man auch auf die jüngsten Raketentests verzichten müssen.

Die nukleare Gefahr jedenfalls ist seit den vergangenen Wochen ein Stück weit gestiegen. Da gab Nordkorea bekannt, dass die Entscheidung über den Einsatz der Waffen nicht mehr – wie bisher – allein in den Händen von Machthaber Kim liegen werde. Dieser sagte Anfang September in einer Rede, Atomwaffen könnten künftig "automatisch und sofort" eingesetzt werden, sollte die Staatsführung nicht verfügbar sein – also etwa im Fall des von Yoon zur Debatte gestellten Enthauptungsschlags. (Manuel Escher, 5.10.2022)