Bei Nährstoffen hilft viel nicht automatisch viel. Im besten Fall gibt man bei Einnahme nach Gefühl viel Geld aus, ohne Nutzen daraus zu ziehen. Im schlimmsten Fall kann eine Überdosierung sogar negative Folgen haben.

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Vitamin D muss man einnehmen. Ohne Zink schnappt man garantiert den nächsten Infekt auf. Und wer nicht täglich Microgreens isst, ist ohnehin gesundheitlich verloren. Auf Social Media sind Nahrungsergänzungsmittel derzeit gefühlt omnipräsent, Influencer und weniger einflussreiche Menschen teilen ihr vermeintliches Wissen und ihre Überzeugung von der Kraft der Mikronährstoffe. Alle Beiträge eint eine Message: Nur mit solchen Hilfsmitteln wird man es gesund durch die Erkältungssaison schaffen. Denn sie stärken das Immunsystem. Doch was ist da wirklich dran?

Am Anfang dieser Erzählung steht ein Missverständnis. Denn man kann das Immunsystem nicht stärken. Wenn überhaupt, kann man es unterstützen – aber wie das konkret funktioniert, kann man nicht eindeutig beantworten. Beeinflusst wird es jedenfalls von vielen Faktoren. Einer davon ist die Versorgung mit Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen und sekundären Pflanzenstoffen – die eben in Form von Nahrungsergänzungsmitteln angeboten werden. Doch mindestens so wichtig, wenn nicht bedeutender, sind das Mikrobiom im Darm, das Schlafausmaß und vor allem der Stresspegel.

Größer als der Drogenmarkt

Will man etwas bewirken, muss man an jeder einzelnen dieser Schrauben drehen. Nahrungsergänzungsmittel versprechen die einfache und rasche Antwort auf eine komplexe Fragestellung, aber so simpel ist es nicht: "Wir suchen nach der einen Kapsel, die ausgleicht, dass wir zu wenig schlafen, zu ungesund essen, zu viel Stress haben und zu wenig Bewegung machen. Die gibt es aber nicht", betont Robert Fritz, Sportmediziner mit Diplom für orthomolekulare Medizin.

Dieser Zweig beschäftigt sich mit Nährstoffen, die zusätzlich zur Ernährung eingenommen werden und gesund halten oder bestehende Krankheiten bessern sollen. Fritz stellt klar: "Mikronährstoffe sind eine gute Ergänzung. Passt jedoch die Ernährung grundsätzlich nicht, bringt auch keine Kapsel etwas." Bevor man dazu greift, sollte man erst die Ernährung unter die Lupe nehmen: "Sie sollte gemüsebasiert sein, mit etwas Obst, wenig Fleisch, keinen verarbeiteten Lebensmitteln und wenig Zucker. So bekommt man alle nötigen Mikronährstoffe – in der Theorie."

In der Praxis sieht es aber oft anders aus, weiß Fritz. Nicht alle Menschen nehmen die Inhaltsstoffe der Nahrung gleich gut auf: "Stress, Intoleranzen oder chronische Erkrankungen beeinflussen, wie gut der Körper Nährstoffe absorbieren kann." Sein Ansatz ist deshalb: Messen, therapieren und regulieren. Und das auf Basis von gesicherten Erkenntnissen. "Die orthomolekulare Medizin bekommt immer wieder den Stempel der Geschäftemacherei aufgedrückt. Umso wichtiger ist es, dass man sie seriös betreibt."

Tatsächlich ist der Markt für Nahrungsergänzungsmittel riesig, Schätzungen zufolge ist er größer als der Drogenmarkt – es geht also um wirklich viel Geld. Fritz pocht deshalb auf evidenzbasierte Anwendung, idealerweise mit fachlicher Beratung, nach dem Motto: "Halte dich an das, was man weiß und was wirklich funktioniert."

Viel hilft nicht viel

Das beginnt damit, dass man die Nährstoffversorgung richtig misst – im Vollblut, also intrazellulär, und nicht über Schnelltests. Nur so erhält man aussagekräftige Informationen über die Versorgungslage. In weiterer Folge geht es darum, zielgerichtet zu substituieren, sagt Fritz: "Immer wieder kommen Patienten zu mir, die bis zu 20 Mikronährstoffe einnehmen. Frage ich sie, ob es ihnen damit besser geht, wissen sie es oft gar nicht."

Deshalb sollte man das individuelle Beschwerdeprofil und die persönliche Ausgangslage abklopfen: Wann ist man üblicherweise erkältet? Hängt das mit Stressphasen zusammen oder mit Jahreszeiten? Lebt man mit Kindern im Haushalt? Gibt es Vorerkrankungen? Wie steht es um Ernährung, Bewegung, Schlaf? In Kombination mit Messwerten kann man dann ein Substitutionsprofil erstellen.

Dieses beinhaltet die wirklich nötigen Nährstoffe und ihre richtige Dosierung. Denn viel hilft nicht automatisch viel. "Im besten Fall gibt man bei Einnahme nach Gefühl viel Geld aus, ohne Nutzen daraus zu ziehen", weiß Fritz. Im schlimmsten Fall kann eine Überdosierung sogar negative Folgen haben. Das ist vor allem bei Vitamin D der Fall. Dieses hormonähnliche Vitamin, das definitiv sehr wichtig ist für das Immunsystem, ist fettlöslich. Bei Überdosierung wird es nicht einfach ausgeschieden, sondern reichert sich im Körper an und kann toxisch wirken.

Doch auch andere Mikronährstoffe kann man überdosieren. "Zink etwa kann man in der Erkältungszeit prophylaktisch einsetzen. Aber man sollte es nicht permanent nehmen, weil man dadurch langfristig die Aufnahme anderer Mikronährstoffe wie Eisen blockiert." Ohnehin können Mikronährstoffe Infekte nicht verhindern. Aber die Viren erwischen einen bei ausreichender Versorgung doch seltener, Infekte sind leichter und dauern kürzer.

Weniger Stress, mehr Bewegung

Wesentlicher für Krankheitsanfälligkeit als die ideale Versorgung mit Nährstoffen ist am Ende des Tages aber der Stresspegel. Denn eine chronische Stressbelastung erhöht die Entzündungswerte – das bringt das Immunsystem aus dem Gleichgewicht, macht anfällig für Erkältungen und erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme, Diabetes, zahlreiche Lifestyle-Erkrankungen und sogar Krebs.

Den Stresspegel kann man aber nicht immer verändern – vor allem wenn er nicht selbstverursacht ist, sondern von außen beeinflusst wird, durch Pandemie, Ukraine-Krieg oder Inflation. Fritz rät deshalb zu Ausgleich durch Bewegung: "Da reichen banale 150 Minuten pro Woche, wie sie auch die WHO empfiehlt, das sind täglich rund 20 Minuten. Das muss auch kein Hochleistungssport sein, man kann flott spazieren gehen, langsam laufen, Rad fahren, schwimmen. Und ja, mit Bewegung kann man Probleme auch nicht lösen – aber sie macht den Kopf frei, und man kann vielleicht besser mit den Sorgen umgehen."

Was ist nun die ultimative Zauberformel, um gut durch die Erkältungssaison zu kommen? Mehr Gemüse essen, mehr und besser schlafen, mehr Bewegung und weniger Stress. Und hat man dennoch einen Mangel an bestimmten Nährstoffen, dann macht es Sinn, mit Ergänzungsmitteln nachzuhelfen. Aber zielgerichtet und zeitlich abgegrenzt. Dann können die Viren kommen. (Pia Kruckenhauser, 7. Oktober 2022)