Wohnen, Arbeiten, Einkaufen – in der 15-Minuten-Stadt liegt alles nah beieinander, die Wege sind kurz. Doch der ideale Mix lässt sich nicht immer leicht umsetzen.

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Alain Thierstein ist Professor für Raumentwicklung an der Technischen Universität in München.

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In der 15-Minuten-Stadt sind alle Orte des täglichen Bedarfs in weniger als 15 Minuten erreichbar. Wie sich das Konzept umsetzen lässt, weiß Alain Thierstein, Professor für Raumentwicklung an der TU München.

STANDARD: Wie lange brauchen Sie ins Büro?

Thierstein: Zehn Minuten. Man kann also sagen, ich wohne schon in einer 15-Minuten-Stadt. Ich habe mir das aber bewusst so ausgesucht. Ich wohne in München und Zürich, und in beiden Städten habe ich kurze Wege sowohl ins Büro als auch zum Hauptbahnhof. In Zürich wohne ich sogar mit Blick auf die Schienen.

STANDARD: Ist das nicht laut?

Thierstein: Nein, das ist wunderbar. Ich finde diese Lage und diese Aussicht toll, das ist fast so gut wie ein Blick auf einen See oder einen Fluss. Es ist schade, dass in vielen Arealen um Bahnhöfe Wohnen nicht vorgesehen ist. Das schreibt der Gesetzgeber vor. Auch in produzierenden Gebieten Wohnen einzuführen ist leider sehr schwer. Dabei wäre genau das der Weg zu einer 15-Minuten-Stadt, also die Nutzungen in allen Stadtvierteln zu vermischen. Vor allem, wenn es darum geht, Wohnen und Arbeiten näher zusammenzubringen, haben wir größte Mühe. Es gibt in unseren Städten immer noch streng getrennte Nutzungskategorien, die eine Vermischung erschweren.

STANDARD: Woher kommt diese Aufteilung eigentlich?

Thierstein: Während der Industriellen Revolution hatten die Menschen teilweise Zwölfstundentage und lebten daher sehr nahe an ihren Arbeitsstätten. Dadurch war die Belastung mit Schadstoffen und Abgasen in den Wohnungen hoch. Durch eine immer bessere gewerkschaftliche Organisation wurde das Bewusstsein für Hygiene stärker. Hinzu kam die Aufbruchsstimmung am Ende des 19. Jahrhunderts, die Menschen wollten mehr individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Die Charta von Athen, die 1933 auf dem internationalen Städtebaukongress verfasst wurde, hat die Stadt als Wurzel allen Übels betrachtet, und daher wurden draußen Wohnsiedlungen mit viel Licht, Luft und Freiraum entwickelt. Leider sind unsere heutigen Baugesetzbücher immer noch ein Abbild dieser Zeit und der grundsätzlichen Trennung der städtischen Nutzungsflächen nach Wohnen, Arbeiten, Erholen und Verkehr – obwohl die Emissionen viel geringer geworden sind.

STANDARD: Warum ist das ein Problem?

Thierstein: Gerade in der Pandemie, als es den Leuten in manchen Städten nur erlaubt war, sich wenige Hundert Meter von ihren Wohnungen zu entfernen, wurde deutlich, dass in vielen Wohnumgebungen die Bedürfnisse des Alltags nicht im nahen Umfeld befriedigt werden können. Monofunktionale Nutzungen, ganze Wohnviertel, die rein als Schlafstätte dienen, sind einfach nicht tragbar. Covid hat quasi ein Reallabor aufgesetzt. Die Menschen haben damals die Tierheime leergeräumt, weil sie dann einen Ausnahmegrund hatten, um doch etwas weiter gehen zu dürfen. Die große Herausforderung beim Umbau zur 15-Minuten-Stadt ist es, Schulen, Arztpraxen, Parks, öffentlichen Verkehr, Nahversorgung et cetera in die unmittelbare Wohnumgebung der Menschen zu bringen.

STANDARD: Welche Rolle spielt der Verkehr?

Thierstein: Das Konzept der 15-Minuten-Stadt sieht vor, dass Straßenraum anders verteilt wird und die völlige Dominanz des Autos im öffentlichen Raum, die wir aus den letzten 40 bis 50 Jahren kennen, abnehmen muss zugunsten von langsamerem Verkehr.

STANDARD: Ist es nicht illusorisch, dass alle in weniger als 15 Minuten in ihrer Arbeitsstätte sind?

Thierstein: Häufig ist es das. Etwa in Wien sind viele Unternehmen im Zentrum angesiedelt, wo das Wohnen nicht immer günstig ist. Allerdings hat die Pandemie Homeoffice und Coworking belebt. Würde sich etwa eine 50/50-Lösung durchsetzen, also dass die Menschen die halbe Woche im Büro und die andere Hälfte daheim oder an einem dritten Standort in ihrer Wohnumgebung arbeiten, würden unsere Städte schon ganz anders aussehen, auf jeden Fall mit weniger Verkehr. Diese Coworking-Büros in der Nachbarschaft könnten an guten Standorten angesiedelt werden und durchaus innerhalb von 15 Minuten erreichbar sein.

STANDARD: Sollten Unternehmen dazu animiert werden, sich in Wohnvierteln anzusiedeln?

Thierstein: Unternehmen werden sich immer mehr dort ansiedeln, wo die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind. Dieser Trend wird in den nächsten 20 Jahren noch viel stärker zur Geltung kommen. Gutausgebildete haben auf dem Arbeitsmarkt das Sagen, denn die Nachfrage nach leistungsfähigen Leuten ist viel höher als das Angebot. Und wer die Wahl hat, arbeitet lieber dort, wo es eine gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr gibt, und nicht im außenliegenden Gewerbegebiet.

STANDARD: Wo gibt es schon gute Vorzeigeviertel?

Thierstein: Wien ist hier sicherlich ein gutes Beispiel. Für 95 Prozent aller Menschen ist hier eine Haltestelle des öffentlichen Verkehrs innerhalb von 400 Metern erreichbar, das ist der höchste Wert für eine europäische Stadt. Ein weiteres gutes Indiz: Dass zuerst die U-Bahn in die Seestadt gebaut wurde, bevor dort Menschen hingezogen sind, war ein gutes Zeichen, dass auf eine öffentliche Anbindung Wert gelegt wird – auch an alle, die überlegt haben, in die Seestadt zu übersiedeln. Kopenhagen und Zürich sind sicherlich auch Vorzeigestädte.

STANDARD: Ist die Umsetzung der 15-Minuten-Stadt in neuen Stadtentwicklungsgebieten einfacher als bei vorhandenen Strukturen?

Thierstein: Auf jeden Fall. Wobei man es auch in neuen Vierteln nicht dem Markt überlassen kann, dass ein ausgewogener Nutzungsmix entsteht. Auch hier muss die öffentliche Hand eingreifen. Bei vorhandenen Vierteln gibt es hingegen häufig nur die Möglichkeit, nachträglich die öffentliche Anbindung zu verbessern. Der Großteil der Flächen ist ja in Privateigentum. In Zürich etwa werden aktuell in Einfamilienhausgebieten alte Villen in Eigentumswohnungen umgebaut – und plötzlich wohnen hier viel mehr Menschen, die Nahversorgung kommt aber nicht hinterher. Hier muss sich die öffentliche Hand überlegen, wie sie das beeinflussen kann. Diese Transformation von einer Einfamilienhaussiedlung zur 15-Minuten-Stadt ist bestimmt die schwierigste Aufgabe. (Bernadette Redl, 7.10.2022)