Ihr habt gut reden, meinte vor kurzem ein Gesprächspartner, als es bei einer Diskussion im Freundeskreis wieder einmal um Sanktionen gegen Russland, Solidarität mit der Ukraine, Rechte für Flüchtlinge und Migranten ging. Alles Dinge, die von den tonangebenden sogenannten liberalen Eliten rückhaltlos bejaht, von den rechtspopulistischen "Abgehängten" aber abgelehnt oder infrage gestellt werden. Anständigkeit, sagte der Diskutant, muss man sich leisten können. Hat er recht? Die Frage macht zumindest nachdenklich. Denn tatsächlich treffen die Einschränkungen, die Russlands Angriffskrieg verursacht hat, die Armen stärker als die Reichen. Länder, die diesen Krieg und die Politik des russischen Machthabers verurteilen, werden von diesem mit dem Entzug von billigem Gas bestraft, Länder, die sich auf Russlands Seite stellen, werden belohnt. Das heißt für den Durchschnittsmenschen zunächst einmal: mehr zahlen fürs Heizen und fürs Essen. Leute aus der Ober- und Mittelschicht können das, wenn’s sein muss, verkraften. Für wirklich Arme ist es existenzgefährdend.

Ukrainer und Ukrainerinnen leisten Widerstand, obwohl sie dafür einen weit höheren Preis zahlen müssen als wir im sicheren Westen.
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Und auch der Zustrom von Menschen aus anderen Kulturen wird von den Eliten eher als Bereicherung, von den Unterschichten als Bedrohung wahrgenommen. Auf der einen Seite wertvolle Beiträge für die Kulturszene in Gestalt von interessanten neuen Werken der Literatur und der Musik, auf der anderen das Gefühl, berechtigt oder unberechtigt, dass es nun für die einheimischen Bedürftigen weniger Fördergeld, Jobs und Wohnungen gibt und das Vorstadtgrätzel immer fremder und unwirtlicher wird. Der oberflächliche Gesamteindruck: Bildungsbürger helfen und spenden, Populisten schimpfen und hetzen.

Putins Aggression

Das führt zu einer weiteren gefährlichen Spaltung der Gesellschaft, die von einschlägigen politischen Akteuren genüsslich ausgenützt wird. Wenn die Eliten als großzügig und die "kleinen Leute" als hartherzig gelten, kann man den Ersteren nicht nur ihr Geld und ihr Prestige missgönnen, sondern auch ihr gutes Gewissen. Sie können sich eine Anständigkeit leisten, die weniger Glücklichen nicht möglich ist. Wladimir Putins Aggression nicht tatenlos hinnehmen, sondern ihr tapfer die Stirn bieten? Ihr habt gut reden!

Dagegen könnte man allenfalls einwenden, dass die Ukrainer genau das tun: Widerstand leisten, obwohl sie dafür einen weit höheren Preis zahlen müssen als wir im sicheren Westen. Und man könnte auch zahlreiche Beispiele aufzählen, wo Menschen, denen es selbst gar nicht gut ging, bereitwillig noch Ärmeren zu Hilfe gekommen sind. Trotzdem würden die Mainstream-Liberalen gut daran tun, ihren Gegnern wenigstens zuzuhören und deren Argumente ernst zu nehmen. Bei der Bundespräsidentenwahl werden diese von den rechten Herausforderern des "Establishment-Kandidaten" Alexander Van der Bellen deutlich vorgebracht: Neutralität, Grenzen schließen, Härte gegenüber Migranten, Härte gegenüber der Europäischen Union.

Sympathisch ist das alles nicht. Aber man muss es zur Kenntnis nehmen. Selbstgerechtigkeit ist das Letzte, das wir jetzt brauchen können. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 6.10.2022)