Bevor man mit dem Rad bei Rot rechts abbiegen kann, muss man halten. Das werden die wenigsten machen, sind sich manche Experten sicher.

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Die aktuelle Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) stärkt vor allem die schwächsten Verkehrsteilnehmer, die zu Fuß, mit dem Fahrrad oder den Öffis unterwegs sind. Letztere, weil an Straßenbahnen und Bussen, die in befahrbaren Haltestellenkaps stehen, nur mehr vorbeigefahren werden darf, wenn die Türen geschlossen sind.

Entsprechend zufrieden sind Fußgängervertreter und Radlobbyisten mit den Neuerungen, auch wenn sie ihnen noch nicht weit genug gehen. Und entsprechend zurückhaltend sind Autofahrer, obwohl auch sie die Vorteile in weiten Bereichen erkennen. Ein Problem ist aber, dass mit jeder Novelle die StVO komplizierter wird und immer noch Raum für Konflikte bietet.

Grafik: der Standard

Fahrschulbetreiber

Die StVO wird immer komplizierter

Er würde aus dem Bauch heraus auch schon jetzt wissen, wie viele Fahrradfahrerinnen und -fahrer an der roten Ampel halten werden, bevor sie rechts abbiegen, ist Alexander Seger, Fahrschulbesitzer in Mödling, überzeugt. "Da, wo das schon leicht möglich war", meint er, seien Radler auch schon zuvor bei Rot rechts abgebogen. Jetzt habe man das halt legalisiert. Ein Problem bleibt aber.

"Wenn irgendwas passiert, ist sowieso der Radfahrer schuld, weil man dann ja sieht, dass das Rechtsabbiegen eben nicht gefahrlos möglich war", erklärt Seger. Genau das ist aber Voraussetzung, um bei Rot rechts abbiegen zu dürfen.

"Die StVO darf man sich vorstellen wie ein Netz, das auffangen soll, bevor was schiefgeht. Ist wo ein Loch, das so groß ist, dass Menschen durchrutschen können, knüpft man das Netz enger – was aber auch bedeutet, dass mehr Löcher entstehen", erklärt Seger, warum die Verordnung immer komplizierter wird. Etwa dadurch, dass man die 1,5 Meter, die man beim Überholen eines Fahrrades einhalten muss, ja in der Praxis nicht wird messen können.

Fußgängervertreter

Freude über Zusatz auf Sackgassenschild

Ein winziger Zusatz auf einem Sackgassenschild ist für Dieter Schwab vom Verein Walk Space die gewichtigste gesetzliche Neuerung. Mit der Novelle wurde die Möglichkeit eingeführt, ein Fußgängerpiktogramm (bzw. auch ein Radpiktogramm) auf dem Verkehrsschild anzubringen: So wird angezeigt, dass man zwar mit dem Auto ansteht, zu Fuß aber sehr wohl weiterkommt. "Das klingt nicht spektakulär, ist aber unsere älteste Forderung", sagt Schwab. "Besonders für Nichtortskundige ist das wichtig. Es zeigt: Für mich Fußgänger geht es weiter."

Das verleihe dem Gehen mehr Bedeutung – ein Effekt, der mit der Novelle aus Schwabs Sicht insgesamt erreicht wurde. "Es macht einen Unterschied, ob Fußgängerinnen im Gesetzestext einen positiven Stellenwert haben oder von vorneherein an den Rand gedrängt und abgeschasselt werden."

Erfreut ist Schwab auch über ein zweites, komplett neues Verkehrsschild: die Schulstraßentafel. Wo sie zu sehen ist, ist der Fahrzeugverkehr zu Unterrichtsbeginn stark eingeschränkt. Das soll Eltern davon abhalten, Kinder direkt vors Schultor zu chauffieren. Bisher mussten dafür Fahrverbotsschilder aufgestellt werden. Die neue Schulstraßentafel ermögliche ein neues Narrativ, sagt Schwab. "Die Politik kann nun leichter sagen: 'Wir machen etwas für die Schule' anstatt 'Wir verbieten hier das Autofahren'". Er erwartet und hofft, dass die Zahl der Schulstraßen so mehr wird.

Nicht ganz so viel kann Schwab dem medial stark präsenten Hineinrageverbot von geparkten Fahrzeugen auf Gehsteige abgewinnen. Für hohen Gehkomfort grundsätzlich entscheidend seien ausreichend breite Gehsteige. Nur wenn dies nicht gegeben sei, komme es zu Konflikten – etwa mit parkenden Autos. Schwab: "Das ist weniger eine Frage der StVO, sondern mehr der Stadtplanung."

Verkehrsclub-Sprecher

Sicherheit sollte über allem anderen stehen

Die Novelle der StVO verbessere "die Verkehrssicherheit für Kinder und alle, die zu Fuß, mit Rollstuhl und Fahrrad mobil sind", ist Christian Gratzer vom Verkehrsclub Österreich (VCÖ) überzeugt.

"Künftig dürfen Lkws im Ortsgebiet nur im Schritttempo rechts abbiegen. Das erhöht die Verkehrssicherheit. Auch dass auf Gehsteigen und Gehwegen Fußgängerinnen und Fußgänger Vorrang gegenüber Kfzs haben, die etwa aus Garagenausfahrten kommen, ist zu begrüßen, und dass bei Ampelschaltungen endlich auf Fußgängerinnen und Fußgänger Rücksicht genommen werden muss. Besonders positiv für Radfahrende: Für das Überholen von Radfahrenden ist nun endlich auch in Österreich ein Mindestabstand klar definiert."

Zentrale Punkte fehlen Gratzer aber noch: "Das Halte- und Parkverbot vor Schutzwegen ausweiten, Gemeinden und Städten erleichtern, Einbahnen für den Radverkehr zu öffnen und großflächig Tempo 30 einzuführen." Und Sicherheit müsse wichtiger sein als die Flüssigkeit des Verkehrs.

Fahrradlobbyistin

Andersherum wäre es besser gewesen

Grundsätzlich sei die Novelle der StVO zu begrüßen, sagt Pia Jordan-Lichtenberger von der Radlobby Burgenland. Aber im Detail findet sie dann doch noch Punkte, die man verbessern könnte. "Schade ist, dass nicht generell die Möglichkeit geschaffen wurde, mit dem Fahrrad gegen die Einbahn zu fahren beziehungsweise rechts abzubiegen. Wir hätten uns gewünscht, dass die Regelung umgekehrt ausformuliert wäre – dass diese Möglichkeit also nur in begründeten Fällen, wo das nicht geht, verboten wäre", erklärt sie.

Sehr erfreulich sei die Änderung, "nun neben einem Kind auf der Straße fahren zu können". Vor allem anfangs werde das aber einen gewissen Mut erfordern, ist Jordan-Lichtenberger überzeugt, denn es werde ein wenig dauern, "bis die StVO-Novelle gedanklich auch bei allen Autofahrerinnen angekommen ist".

Jetzt gelte es, die "tatsächliche Umsetzung durch die Gemeinden und Städte abzuwarten". Für das Burgenland, in dem sich die Radlobby gerade neu gründet, hofft sie auf besonderen Pioniergeist – und den werden sie auch einfordern.

Autoclub-Jurist

Angst vor Konflikten, wenige Beschwerden

ÖAMTC-Chefjurist Martin Hoffer erkennt weder Glanzlichter noch konkrete Schattenseiten in der Novelle. "Es ist nichts megagelungen, es ist aber auch nichts vollkommen danebengegangen", lautet sein Resümee. Die meisten Regelungen seien Kompromisse, das mache sie durchaus komplex – und mitunter zum Problem. "Finger weg von zu komplizierten Regelungen. Ein Massengesetz sollte so einfach und widerspruchsfrei sein, dass man einfach kommunizieren kann", sagt Hoffer. An der "verkürzten medialen Information" über die Novelle zeige sich, dass dies aber kaum möglich sei.

Was Hoffer damit konkret meint? Er bringt die Regelung zum Nebeneinanderfahren als Beispiel. Mit dem Rad ist dies nun auch auf der Fahrbahn von Straßen mit Tempo 30 erlaubt. Allerdings nicht pauschal, sondern nur, sofern es sich weder um eine Schienen- noch um eine Vorrangstraße handelt. Weitere Bedingung: Niemand darf dadurch am Überholen gehindert werden. Regelungen wie diese würden jedem (verkehrs)politischen Lager ermöglichen, sich die "Rosinen herauszupicken und der eigenen Klientel darzustellen, was für sie erreicht wurde". Soll im konkreten Beispiel heißen: Radfahrervertreter reden womöglich mehr über die Ermöglichung des Nebeneinanderfahrens und lassen die Einschränkungen weg, bei Autolenkervertretern könnte es umgekehrt sein.

Hoffer befürchtet, dass dies Konflikte im Verkehr fördern wird, dessen müssten sich die unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer bewusst sein. Hoffers Rat: im Zweifel noch einmal nachfragen. Die Zahl der Beschwerden über die neuen Regeln beim ÖAMTC halte sich (noch) in Grenzen. "Es sind erstaunlich wenige", sagt Hoffer. "Die kommen meist mit einer gewissen Zeitverzögerung." (Stefanie Rachbauer, Guido Gluschitsch, 6.10.2022)