Im Schaufenster: Der Handel stimmt sich auf die bevorstehende Lohnrunde ein.

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Wien – "In Zeiten der Corona-Krise über Gehälter zu verhandeln war die bisher größte Herausforderung. Ein Jahr später stellt sich heraus: Es geht noch schlimmer." Rainer Trefelik, Handelsobmann in der Wirtschaftskammer, zweifelt nicht an der Kraft der Sozialpartnerschaft. Theaterdonner zum Trotz, der das Feilschen um Kollektivverträge seit jeher begleitet, werde sie auch heuer funktionieren. Die Rahmenbedingungen freilich seien in seiner Branche noch nie dramatischer gewesen.

Am 18. Oktober startet die Herbstlohnrunde im Handel. Kein Kollektivvertrag in Österreich vereint mehr Angestellte, keiner betrifft mehr Frauen. Die vergangenen beiden Jahren standen im Banne der Pandemie. Geschlossene Geschäfte auf der einen Seite. Beschäftigte, die an der Virenfront an die Grenzen ihrer Belastbarkeit kamen, auf der anderen.

Heuer brach die Energiepreiskrise über die Unternehmen herein. Die rasante Teuerung erstickt jede neue Lust am Konsum im Keim. Hohe Stromrechnungen nehmen Einzelhändlern die Aussicht auf Gewinn. Einkommensschwächere Haushalte sind gezwungen, ihre Ausgaben deutlich einzuschränken.

Viele unbesetzte Stellen

Der anhaltend gute Arbeitsmarkt erlaubt es Beschäftigten, sich Jobs zu suchen, die besser bezahlt sind als jene im Verkauf und ein familienfreundlicheres Umfeld bieten. Rund 18.000 Stellen waren im Handel zuletzt unbesetzt. Parallel dazu steigen Insolvenzen. Erhebungen des Handelsverbands zufolge stehen 6000 Geschäfte vor der Schließung.

"Ich bin kein Freund von Kassandrarufen. Aber wir bewegen uns alle auf extrem dünnem Eis", warnt Trefelik, Chefverhandler der Arbeitgeber. Die teurere Energie entziehe den Betrieben ihre Geschäftsgrundlage. Finde sich auf europäischer Ebene keine Lösung, koste sie zahlreichen Händlern trotz staatlicher Hilfen die Existenz. "Ob man in zehn Meter Tiefe oder in sieben Metern ertrinkt, macht dann keinen Unterschied mehr." Dass Unternehmer Risiken in Kauf nehmen müssen, sei klar. Diese seien aber längst nicht mehr berechenbar.

10,6 Prozent mehr Lohn und Gehalt fordern die Metaller. Ihr Abschluss berücksichtigt gesamtwirtschaftliche Entwicklungen. Die ausgehandelten Erhöhungen sind wichtige Messlatten für andere Branchen. Dennoch bleibt der Einzelhandel eine eigene Baustelle.

Er ist heterogener, mit weniger Kapital ausgestattet und nur bedingt in der Lage, Produktivität zu steigern. Gehälter machen einen höheren Anteil der Gesamtkosten aus – wobei sich auch hier nichts über einen Kamm scheren lässt: Diskonter kommen mit weniger Personal aus als beratungsintensive Betriebe. Der Spielraum für Preisanpassungen ist im Einzelhandel geringer als in der Industrie. Wird er zu sehr ausgereizt, bricht die Nachfrage ein.

"Jeder Cent fließt in Kaufkraft"

Das Bild, das Helga Fichtinger vom Handel skizziert, weicht naturgemäß stark von Trefeliks Befund ab: Der Branchenradar der Arbeiterkammer bestätige seine rückblickend positive Entwicklung – während das Gros der höheren Energiekosten die Beschäftigten schulterten, betont die Chefverhandlerin der Arbeitnehmer im STANDARD-Gespräch.

Sie hält eine kräftige lineare Erhöhung der Löhne und Gehälter für unabdingbar. "Denn jeder Cent mehr fließt unmittelbar in Kaufkraft, wovon wiederum der Einzelhandel profitiert. Es ist eine Win-win-Situation."

Dass Arbeitnehmern infolge der Abschaffung der kalten Progression ohnehin mehr Netto vom Bruttogehalt bleibt, lässt sie als Argument nicht gelten. Ebenso wenig die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale: Die Preistreiber seien bekannt. "Es sind nicht höhere Gehälter, die die Inflation anheizen."

Einmalzahlungen lehnt sie ab. "Einmal ist keinmal." Diese seien wie ein Stück Butter, das in der heißen Pfanne zerfließe.

Fichtinger sieht viele Handelsbeschäftigte am Ende ihre Kräfte. Corona wirke nach. Personalengpässe führten dazu, dass sie laufend kurzfristig einspringen müssten oder in Positionen gezwungen würden, für die sie nicht qualifiziert seien. "Viele kündigen derzeit von sich aus. Das ist etwas, an das der Handel bisher nicht gewöhnt war. Wir müssen über bessere Arbeitsbedingungen reden."

Dauerbrenner Teilzeit

Auf den Verhandlungstisch komme daher auch das Thema Teilzeit, die Mitarbeitern nur in gewissen Lebensphasen diene. Viele würden gern Stunden aufstocken, was Händlern, deren Dienstpläne auf größtmöglicher Flexibilität fußen, oft nicht zupasskomme.

Auch Helmut Hofer, Experte des Wifo, ortet hier Handlungsbedarf: Der Handel müsse sich mehr Modelle mit längerer Arbeitszeit überlegen. Die Gewerkschaft wiederum dürfe nicht über Teilzeit als Falle klagen, zugleich jedoch die stärkere Anhebung unterer Gehälter fordern, was diese erst recht attraktiv mache.

Offen ist, ob eine weitere brisante Debatte Einzug in die bevorstehenden Verhandlungen hält. Es geht um Öffnungszeiten. Ihre Verkürzung könnte nämlich dabei helfen, Energiekosten zu bremsen. Von einem "green monday", an dem der Möbelhandel aus freien Stücken geschlossen bleibt, ist in Deutschland die Rede. Findet die Idee in Österreich Widerhall, ist ein Match in den Reihen der Arbeitgeber programmiert. Vor allem Shoppingcenter sind nicht bereit, auf Einkaufstage zu verzichten. (Verena Kainrath, 6.10.2022)