Freiwillige kümmern sich um die Bevölkerung im ganzen Land.

Foto: EPA / George Ivanchenko

Alles war geplant. Das Konzert, die Präsentation der Platte. Und dann das: der Krieg. Switlana Gawriliw tippt auf dem Handy herum, spielt eines ihrer Lieder, ein Duett mit Gitarrenbegleitung. Und wenn Gawriliw aufs Gas steigt und das Fenster herunterlässt, dann hat das seine Gründe. Eine Druckwelle könne die Scheibe bersten lassen, und die Splitter könnten gefährlich werden, sagt sie. Sie manövriert den Wagen rasend um riesige Löcher im Asphalt, hinein in den Ort Lymany – nicht zu verwechseln mit dem jüngst zurückeroberten Lyman.

Danach kommt Niemandsland. Und nach dem Niemandsland kommt russisch kontrolliertes Gebiet. Sie steigt aus dem Wagen, deutet die Straße hinunter. 15 Minuten Fahrt wären es in ihr Dorf. Aber derzeit ist das unmöglich. Sie sagt: "Würde ich da rüberfahren, ich bin sicher, die Orks würden mich sofort in den Straßengraben schießen." Dann wendet sie sich ab und murmelt: "Ach, meine Hunde ..."

Spenden sammeln

So viel ist passiert in den vergangenen Monaten. Zu viel. Ihr Sohn ist vermutlich tot, der andere Sohn ist in der Armee und ebenso ihr Mann. Und Switlana Gawriliw? Die sammelt Spenden, fährt Güter in Dörfer, vermittelt Wohnungen, Prothesen und Rehabilitation für Verwundete. Winterfeste Zelte, Schlafsäcke, Winterkleidung, Wasserfilter, Generatoren werden derzeit dringend benötigt. Drei Stunden schlafe sie, um vier stehe sie auf. Für mehr Schlaf habe sie nicht die Zeit.

Wenn es dumpf kracht in der Ferne, verzieht Natalja Panashi keine Miene – nein, sie lacht viel eher. Denn vor ihr steht ein nagelneuer Generator. Ein Foto wird gemacht, ein kurzes Video für die Spender, damit sie auch wissen, dass das gute Stück angekommen ist. Die Sonne scheint, es ist ein lauer Herbsttag. Vom Fluss her, der hier zum Meer wird, weht eine milde Brise. Das Grollen ist kein Wetterphänomen. Das ist die russische Artillerie. Bürgermeisterin Natalja Panashi ist die Chefin hier. Und der Ort, in dem sie die Fäden zusammenhält, liegt seit den ersten Kriegstagen direkt an der Front.

So unscheinbar Lymany auch ist – kleine Häuser, eine löchrige Straße –, der Ort ist ein kleines Wunder. Als die russische Armee in der ersten Phase des Krieges vorrückte, um die Großstadt Mykolajiw einzunehmen, beschoss sie den Ort direkt an der Küste zwar, umging ihn aber – und als die Russen zurückgedrängt wurden, kamen sie erst gar nicht dazu, sich hier einzunisten. Und seither steht es hier.

Aber jetzt, da Russland Gebiete in der Ukraine annektiert hat, steht auch die sonderbare Routine eines Ortes wie Lymany kopf. Eine Routine, bei der es dazugehört, dass das Haus morgens unter Umständen keine Fenster und kein Dach mehr haben könnte und ein riesiges Loch im Garten klafft. Eine, in der auf dem Friedhof Raketen im Boden stecken. Das Rathaus ist zur Hälfte eine Ruine. Eine Rakete hat es getroffen.

Wieso ist die ukrainische Gegenoffensive im Osten und Süden so erfolgreich, und wie sind russische Truppen derzeit aufgestellt? Es antwortet Philipp Eder
DER STANDARD

Langsame Rückkehr

Drei Frauen sortieren Papiere in den letzten verbliebenen zwei Räumen. "Wir arbeiten daran, Normalität zu bewahren", sagt Natalja Panashi. Und sehr laut und deutlich sagt sie: "Einst haben hier 4.000 Menschen gelebt, zwischenzeitlich waren es 212, jetzt aber sind es wieder mehr als 800. Die Leute kommen wieder." Das bringt Verwaltungsaufwand mit sich. Aufwand, für den es Computer braucht. Computer brauchen Strom.

Es gebe zwar Gas im Ort und auch Wasser – aber Medikamente sind ein Thema und eben Strom. Deshalb auch der Generator. Und vor allem deshalb auch Natalja Panashins Freude über das Gerät. Denn sie hat ein Ziel: ihr Dorf, das sich über die gesamte Ukraine und in aller Herren Länder zerstreut hat, wieder zusammenzubringen. "Die Menschen wollen nach Hause", sagt die Bürgermeisterin. Derzeit sind es vor allem aber einmal Alte, die hier sind. Das Dorf, das einst eine eigene Schule und einen eigenen Kindergarten hatte, beherbergt heute gerade einmal neun Kinder. Unterricht gibt es nur über das Internet. Denn nach Lymany fährt kein Bus.

Für Gemeinden bedeutet Abwanderung in erster Linie eines: geringere Steuereinnehmen und damit weniger Budgetmittel. Und genau hier springen Freiwillige wie Switlana Gawriliw mit Spenden ein. Die ukrainische Freiwilligenbewegung sei es, die die Ukraine am Laufen halte, sagt sie. In diesen Tagen, Wochen und Monaten ist die Ukraine ein Land auf Achse, in dem jeder tut, was er kann. Und so eben auch Switlana Gawriliw. Sie hört sich um, sammelt Infos, bündelt sie, reicht sie weiter, stellt Geld auf oder Spenden, liefert – an Gemeinden ebenso wie an die Armee.

Das, worauf sie wartet, ist die Offensive der Ukrainer. "So gerne will ich wieder heim", sagt sie später. Einer der drei Hunde sei wohl tot. Nachbarn hätten ihr das erzählt. Denn ab und zu sei es möglich zu reden. Ab und zu hätten die ein Signal da drüben. Und auch die würden warten und immer fragen: "Wann kommt ihr endlich?" (Stefan Schocher aus Lymany, 6.10.2022)