Russische Soldaten defilieren zum 9. Mai. Man feiert den Sieg über Nazideutschland.

Das Anstellen von historischen Vergleichen verführt im privaten Sprachgebrauch wie in der politischen Rhetorik nicht selten zu unreflektierten Kurzschlüssen. Die Hemmschwelle, jemanden Faschist oder Nazi zu nennen oder ganze politische Systeme mit Superlativen des Bösen zu bedenken, ist gerade im Ukrainekrieg deutlich gesunken. Hauptschuld daran trägt sicherlich der Aggressor, Wladimir Putin, der unablässig davon spricht, der Ukraine den "Nazismus" auszutreiben. Von den Angegriffenen wird wiederum der Kreml-Autokrat mit immer größerer Selbstverständlichkeit als "Faschist" bezeichnet. Warum diese Wortwahl?

Durch seinen inflationären Gebrauch sei der NS-Vergleich "längst abgenutzt", er bleibe "infolge seiner kulturellen Codierung als Etikett des Bösen schlechthin aber eine erstrangige Legitimationsinstanz, die für beide Nachfolgestaaten der 1941 in einem Weltanschauungskrieg überfallenen und verheerten Sowjetunion von besonderem Gewicht ist", sagt der deutsche Historiker Martin Sabrow vom Leibniz-Zentrum Potsdam.

Gemeinsam mit einem Dutzend anderer Forschender wird er Donnerstag und Freitag, an einer öffentlichen Tagung des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Akademie der Wissenschaften teilnehmen. Das hoch aktuelle Thema: "Der historische Vergleich. Erkenntnisgewinn und Kampfzone."

Anfällig für Missbrauch

Frühere mit späteren Ereignissen und Phänomenen zu vergleichen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen, sei eigentlich eine Grundoperation menschlicher Orientierung und auch ein unentbehrliches Instrument der Geschichtsforschung, sagt Sabrow. Aber der oft mit Gleichsetzung verwechselte Vergleich sei anfällig für politische Instrumentalisierung und agitatorischen Missbrauch.

"Der NS-Vergleich ist eine scharfe geschichtspolitische Waffe. Wer in die Nähe des NS-Regimes gerückt wird, kann dadurch moralisch vernichtet werden. Die Analogie zum Nationalsozialismus kann aber auch mit Wucht auf denjenigen zurückfallen, der sie allzu leichthändig geäußert hat", sagt Sabrow. Spätestens seitdem der deutsche Außenminister Joschka Fischer den deutschen Bundeswehreinsatz im Kosovo 1999 mit dem Satz "Nie wieder Auschwitz‘" legitimiert hatte, habe sich die vergleichende Bezugnahme auf die NS-Geschichte zu einer vielverwendeten Parole in der rhetorischen Kriegsführung entwickelt.

Aber ist es nicht gerechtfertigt, in Putins Kriegsregime faschistische Züge zu erkennen? Erinnern inszenierte Hilfsgesuche von Separatisten, Scheinreferenden und gezielte Kriegsverbrechen nicht doch auch an Hitler? Mit angeblichen Beistandsgesuchen und politischen Scheinabstimmungen habe auch die Sowjetunion operiert, etwa in der Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 und 1968 in der Erstickung des Prager Frühlings, "ohne dass sie deswegen seinerzeit mit Hitlerdeutschland verglichen wurde", meint Sabrow.

Bezugspunkte zu Stalin und Milošević

Bezugspunkte zu Stalin ließen sich finden, wenn Putin auf die Wiederherstellung eines großrussischen Imperiums abzielt. Vom Stalinismus wiederum trenne Putins Alleinherrschaft aber das Fehlen einer einigenden Ideologie. Am ehesten ähnele die Machtstruktur in ihrem pseudodemokratischen Charakter dem postkommunistischen Regime von Slobodan Milošević in Serbien.

Mit dem Faschismus lasse sich Putins autokratische Herrschaft nicht ernsthaft vergleichen, "weil ihr neben der kultischen Verehrung eines charismatischen Führers die Massenbewegung fehlt. Auch den unbedingten Vernichtungswillen eines Volkes, den Hitler etwa noch in seinem Testament im Führerbunker bekräftigte, kann Sabrow bei Putin nicht erkennen.

Thema auf der Tagung werden zudem der "alte" und "neue" Historikerstreit sein. Während es in der ersten Auseinandersetzung in den 1980er-Jahren um die Frage ging, inwiefern die Verbrechen Hitlers und Stalins miteinander vergleichbar seien, wird heute stärker danach gefragt, ob der Holocaust in eine Reihe mit Genoziden aus der Kolonialzeit gestellt werden kann oder sogar muss.

"Aus deutscher Perspektive ist der Holocaust zwar historisch vergleichbar, aber moralisch unvergleichlich", sagt Sabrow dazu. "Dessen systematische und bürokratisch organisierte Durchführung stellt einen Zivilisationsbruch dar, der sich weder in die Globalgeschichte kolonialer Unterdrückung und Verfolgung einpassen lässt, noch mit anderen Menschheitsverbrechen wie des Holodomors in der Ukraine (von der UdSSR verursachte Hungersnot, Anm.) oder des großen Terrors in der Sowjetunion auf einer Stufe steht."

Breiter Konsens im Historikerstreit

Die Historikerin Heidemarie Uhl, die die Wiener Tagung maßgeblich organisiert, pflichtet Sabrow bei: "Nach wie vor besteht ein breiter wissenschaftlicher Konsens, dass sich der Holocaust von anderen Genoziden durch den unbedingten Vernichtungswillen des NS-Staates gegenüber der jüdischen Bevölkerung unterscheidet, jenseits aller ökonomischen und kriegsbedingten Logik."

Es sei auch nicht so, wie von Vertretern der Postcolonial Studies fallweise behauptet, dass die Fokussierung der europäischen Gedenkkultur auf den Holocaust die Kolonialverbrechen überlagere. "Eigentlich ist das Gegenteil der Fall: erst die neue Erinnerungskultur, die sich seit den 1990er-Jahren in Deutschland entwickelt, stellt die Frage nach dem negativen Erbe einer Gesellschaft", also auch nach jenem der Kolonialzeit. Inklusives Gedenken, das auch anderen Opfergruppen Raum gibt, sei dadurch erst möglich geworden. (Stefan Weiss, 6.10.2022)