Annie Ernaux wird "für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln und kollektiven Einschränkungen des persönlichen Gedächtnisses aufdeckt" ausgezeichnet.

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Üblicherweise ruft die Schwedische Akademie den Gewinner oder die Gewinnerin des Literaturnobelpreises vor der Verkündung in Stockholm an. Im Gegenzug überbringt sie auch die erste Reaktion des oder der Ausgezeichneten. Man habe Annie Ernaux bisher allerdings nicht erreichen können, räumte Mats Malm, der Ständige Sekretär des Gremiums, Donnerstagmittag ein, als er die Zuerkennung des Preises 2022 an die 82-jährige Französin bekanntgab.

Ob die 1940 in einem kleinen Dorf in der Normandie in bescheidene Verhältnisse hineingeborene Autorin von der Auszeichnung überrascht war? Seit Jahren war sie bei den Wettbüros heiße Anwärterin, auch heuer war sie unter den Favoriten.

Ihr Gewinn überrascht höchstens insofern, als der Preis damit wieder nach Europa bzw. in die westliche Welt geht – nach dem in Großbritannien lebenden Abdulrazak Gurnah, Louise Glück, Peter Handke und Olga Tokarczuk. Dabei hatte die Schwedische Akademie 2019 eingeräumt, sie sei sich ihres eurozentrischen Blicks bewusst. Der Fokus der Akademie müsse zuerst auf der literarischen Qualität liegen, entgegnete der Vorsitzende des Nobelkomitees heuer dahingehenden Fragen.

Unbestrittener Rang

Und der literarische Rang Ernaux’ ist bei Publikum als auch Kritik unbestritten. Dabei schreibt sie keine dicken Romane: 80, 100 oder 110 Seiten zählen ihre Bücher meist. Im Juli ließ ein gar nur 37 Seiten schmales Heftchen, Le jeune homme, das noch nicht auf Deutsch vorliegt, Frankreich den Atem anhalten. Darin erzählt Ernaux gut 30 Jahre nach dem Geschehen von der Affäre mit einem jüngeren Mann, die sie mit 54 Jahren einging. Er euphorisiert sie.

Tabubrüche sind typisch für Ernaux’ Werk. Nicht, weil die Autorin im herkömmlichen Sinn provozieren will, sondern weil die Welt, die sie abbildet, eben so beschaffen ist, wie sie beschaffen ist: Sie ist skandalös, und Ernaux macht das sichtbar. Sie schreibt autofiktional, ihre Bücher basieren auf ihrem Leben. Sie hat damit das heute beliebte Genre (siehe Karl Ove Knausgård, Édouard Louis) wesentlich geprägt.

Sozialer Aufstieg und Spannungen

Fragen nach Klasse und Geschlecht stehen für Ernaux dabei von Anfang an im Zentrum, der Soziologe Pierre Bourdieu beeindruckte sie. Schon im Debüt Les armoires vides von 1974 erforscht die Autorin ihren sozialen Hintergrund, zehn Jahre später porträtiert sie ihren Vater (Der Platz), dann ihre Mutter (Eine Frau): einfache, aber fleißige Menschen, die sich dem Prekariat entwunden und ein kleines Lebensmittelgeschäft aufgebaut haben. Der Aufstiegskampf hat den Vater streng werden lassen, die Angst vor dem Abstieg prägte beide Eltern und führt zu Spannungen.

Dass die Tochter diesem Milieu durch Bildung entwächst und sozial aufsteigt, macht die Familie zwar stolz, beschert Annie Ernaux aber auch Schuldgefühle und den Eindruck des Verrats an ihren Eltern, zu denen sich zunehmend eine Distanz auftut (Die Scham). Das religiös oppressive Klima trägt das Seine bei.

Scham, Macht, Demütigung

Ernaux rückt in ihren Büchern immer mehr selbst ins Zentrum. Das Ereignis handelte 2001 von einer Abtreibung, die die 23-jährige Ernaux vornehmen ließ. Abtreibungen sind in den 1960ern in Frankreich aber illegal, von Ärzten wird sie abgewiesen, sie landet bei einer Engelmacherin und letztlich in der Notaufnahme. Psychisch erleidet sie Demütigung und Stigmatisierung.

Erinnerung eines Mädchens (2016) hat das erste Mal und die erste Liebesenttäuschung zum Thema. Sie stürzt die Protagonistin in ein Dilemma, sie fühlt sich in der moralisch patriarchal dominierten Gesellschaft bald ausgegrenzt.

Ernaux nennt sich "Ethnologin meiner selbst". Ausgangspunkt für ihre Bücher sind oft Fotografien oder Tagebücher, anhand derer sie ins Erinnern kommt und Jahrzehnte verspätet Erlebnisse aufarbeitet. Dass man im Moment einer Erfahrung diese noch nicht versteht, hat Ernaux betont. Sie berührt über das Persönliche das Allgemeine. 1980 ließ sich die Gymnasiallehrerin trotz zweier Kinder scheiden. An ihren Erfahrungen kristallisieren sich Gesellschaftspolitik, Machtstrukturen, soziale Konventionen heraus, ebenso die Ahndung von Verstößen dagegen.

Schreiben als politischer Akt

Schreiben sieht Ernaux als einen politischen Akt, der uns für Ungleichheiten sensibilisieren soll. Sie benutze Sprache wie ein "Messer", beschreibt die Autorin ihren Stil. Tatsächlich ist dieser Kontrast zu den dramatischen Inhalten: neutral, transparent, klar. Das hilft wohl beim Offenlegen: "Ich wollte immer die Art von Buch schreiben, über die ich nachher nicht sprechen kann."

Der große Erfolg kam aber spät. Ernaux’ voluminösestes Buch ist 2008 mit Les années (Die Jahre) erschienen und spannt den Bogen von der Kindheit nach dem Krieg übers Studium, Ehe und Mutterschaft bis zum Altern. Mit ihm setzte die breite Wahrnehmung ein. Heute ist Ernaux ein Superstar, ihr Werk in feministischer und stilistischer Hinsicht prägend. Wie aktuell es ist, zeigt auch die prämierte Filmadaption von Das Ereignis. Seit 2017 pu bliziert Suhrkamp im Jahrestakt Übersetzungen.

Im Lauf des Nachmittags hat Ernaux übrigens abgehoben. "Nein! Wirklich?", soll sie zur frohen Botschaft gesagt haben. Das Telefon habe den ganzen Morgen über geklingelt, sie habe aber gearbeitet. (Michael Wurmitzer, 6.10.2022)