Tapetentür zur Macht in der Hofburg: Aus den Amtsräumen dahinter lässt sich viel Unruhe stiften.

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Der Amtsinhaber, ein träger Wegducker: So lässt sich der beliebteste Vorwurf der Konkurrenz zusammenfassen. Nicht bloß Kommentatoren wollten sie sein, versprechen Alexander Van der Bellens Herausforderer, sondern aktiv in die Politik eingreifen – notfalls auch, indem sie die Bundesregierung entlassen.

Alles Hirngespinste, die an der Realität scheitern müssen? Ein Blick in die Verfassung zeigt ein anderes Bild. Im Amt des Bundespräsidenten schlummert mehr Macht, als die bisherigen Inhaber ausgelebt haben.

Vermächtnis autoritärer Zeiten

Verliehen bekam das Staatsoberhaupt seine Fülle an Einfluss 1929. Im zunehmend autoritären Geist der Zwischenkriegszeit kämpften die Christlichsozialen für einen starken Mann als Gegengewicht zur auf der Verfassung von 1920 fußenden Parlamentsdemokratie. Der mit den Sozialdemokraten ausgehandelte Kompromiss machte die Präsidentschaft, wie der Rechtswissenschafter Manfried Welan sagt, zu einem "mehrdeutigen Amt, das verschiedene Interpretationen zulässt".

Dieses Erbe blieb in der Zweiten Republik erhalten: Das Versprechen aus der Unabhängigkeitserklärung, Österreich im Geiste der Verfassung von 1920 wiederherzustellen, lösten die Gründerväter nicht ein – zumindest formell. In der Praxis aber etablierte sich ein Amtsverständnis, das als "Rollenverzicht" in die Geschichte eingegangen ist: Staatsoberhäupter übten sich als Mahner und moralische Instanz, ließen ihre stärksten Instrumente aber ungenutzt. Doch das müsse nicht ewig so bleiben, sagt Welan: "Die Gegenkandidaten Van der Bellens geben Zeugnis, dass der Bundespräsident auch anders ausgelegt werden kann."

Chaotischer Reigen

Wie weit das gehen könnte? Gedankenspiel: Ein konfrontativ gesinnter Präsident könnte eine unliebsame amtierende Regierung tatsächlich nach Gutdünken entlassen – die Verfassung schreibt dafür nicht einmal Bedingungen vor. Ebenso frei ist der Regent in der Hofburg, eine neue Exekutive als Ersatz zu ernennen.

Diese muss sich allerdings innerhalb einer Woche dem Nationalrat stellen. Fehlt ihr das Vertrauen einer Mehrheit der dort vertretenen Abgeordneten, folgt die postwendende Abwahl per Misstrauensvotum. Ohne Einigung droht, wie der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik sagt, "ein Kreislauf der Instabilität": Der Präsident nominiert immer neue Regierungen, die wiederum vom Nationalrat gestürzt werden.

Die Verfassung gewährt ein Mittel, um den Reigen zu unterbrechen. Laut Artikel 29 kann ein Bundespräsident den Nationalrat auflösen, wenn auch nur auf Vorschlag der Bundesregierung. Doch dieser Sanktus wird leicht zu bekommen sein, wenn das Staatsoberhaupt selbst gerade genehme Persönlichkeiten eingesetzt hat. Der Vorschlag muss nur rechtzeitig innerhalb der Wochenfrist erfolgen, ehe der Nationalrat die Regierung stürzen kann.

Die Folge sind Neuwahlen. Ergeben diese wieder keine Mehrheiten, die dem Präsidenten genehm sind, beginnt das Spiel von Neuem. Einfach über das Parlament hinwegfahren kann ein Amtsinhaber folglich nicht.

Grenzen für den Regenten

Die Verfassung biete keine legalen Wege in eine Diktatur, fasst Ennser-Jedenastik zusammen. So setzt das zugestandene Notverordnungsrecht die Mitwirkung des Hauptausschusses des Nationalrats voraus und verbietet Beschlüsse, die das Budget auf Dauer belasten. Doch eines könne ein Bundespräsident jedenfalls: "Viel Chaos und Unruhe anrichten."

Grund genug für den Politologen, eine Korrektur zu empfehlen. Das Recht des Präsidenten, relativ problemlos die Volksvertretung aufzulösen, geht ihm zu weit – schließlich gibt es umgekehrt viel höhere Hürden, um das Staatsoberhaupt aus dem Amt zu entfernen.

Ebenfalls problematisch sei die Befugnis, das "verfassungsmäßige Zustandekommen" der Bundesgesetze zu beurkunden. Es gebe einen großen Interpretationsspielraum, was mit diesem Terminus genau gemeint ist, sagt Ennser-Jedenastik. Mit bösem Willen ließen sich alle möglichen Gesetze blockieren.

Auch Welan plädiert für eine Abspeckung der Kompetenzen – und macht kein Hehl aus seiner Präferenz: "Ich habe immer gebetet, dass der Bundespräsident fad ist." Das bedeute aber nicht, dass eine offensivere Auslegung des Amtes nicht auch vertretbar und zulässig sei: "Insofern muss man gegenüber jenen Kandidaten, die das wollen, Fairness walten lassen." (Gerald John, 7.10.2022)