Im Gastblog erörtern Andrea Lindmayr-Brandl und Anke Charton, ob man die Frage, ob Franz Schubert schwul war, beantworten kann und ob sie überhaupt von Bedeutung für das Verständnis seiner Musik ist.

Die erste Summer School der Kommission für Interdisziplinäre Schubert-Forschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hat diese Frage aus heutiger Sicht aufgegriffen und sich mit "Sexualität und Gender in Schuberts Wien" auseinandergesetzt.

Franz Schubert, um 1860 von Josef Eduard Teltscher.
Foto: Wien Museum

Historische Biografien: Straight until proven otherwise?

Das Wort "schwul" – zumindest in der heutigen Form – gab es 1820 noch gar nicht. Auch die Vorstellung von Geschlechterrollen und Sexualitäten war eine gänzlich andere als heute. Es stellt sich die Frage: Kann man dann überhaupt über historische Biografien und ihr sexuelles Begehren sprechen? Dabei werden ganz grundlegende Fragestellungen aufgeworfen. Etwa ob man hier gegenwärtige Debatten auf die Vergangenheit projiziert. Oder: ob die Vergangenheit nicht doch bunter war, als die Geschichtsschreibung es gemeinhin behauptet. Können wir durch unsere einseitige Geschichtsschreibung Vielfalt überhaupt erkennen? Fest steht: Was wir heute als "queer" bezeichnen würden, gab es auch in vergangenen Jahrhunderten – sowohl als Lebensweise als auch begrifflich. Doch in der Mainstream-Geschichte ist die Erinnerung daran verlorengegangen.

Die Musikgeschichtsschreibung, so argumentierte eine Teilnehmerin der Summer School, sei voreingenommen, wenn es um die Sexualität von Komponisten gehe. Die Forschung würde meist ausgehen von "straight until proven otherwise", was aber ebenso eine Hypothese sei wie das Gegenteil, "queer until proven otherwise". Die eigene Gegenwart, so ein anderes Statement, hinterlasse immer Spuren in der Geschichtsschreibung. Es sei produktiver, sich offen damit auseinanderzusetzen, als die subjektive Position als objektiv zu deklarieren.

Queerness in der Aufführung?

Ähnlich stellte sich der Konflikt in Bezug auf die Aufführungspraxis zur Zeit Schuberts dar. Gibt es Interpretationen, die "zu subjektiv" sind? Oder gibt es im Gegenzug "objektive" Interpretationen, die durch ein Werk vorgegeben werden? Wie verhalten sich die Musikerinnen und Musiker zueinander? Musik ist schließlich nur hörbar und erlebbar, wenn Menschen – die immer eine Biografie haben – sie aufführen.

Es scheint also klar zu sein, dass Queerness nicht in den Noten sitzt. Queerness – und der gesellschaftliche Umgang damit – ist aber Teil der Konventionen, die die Komposition und die Aufführung von Musik beeinflussen. Denn: Sexualität und Gender sind biografische Aspekte, die sich ebenso wie Alter, Ethnizität oder Klassenzugehörigkeit im eigenen Schaffen und Handeln vielfältig widerspiegeln können.

Ob Schubert nun schwul war oder nicht? Das lässt sich bis heute nicht eindeutig beantworten. Vielleicht ist es aber auch gar nicht so wichtig. Wesentlich ist vielmehr, dass historischen Biografien eine Vielfalt zugestanden wird und dass diese Vielfalt als Möglichkeit sichtbar wird – auch in der (musikalischen) Gegenwart. (Andrea Lindmayr-Brandl, Anke Charton, 10.10.2022)