Die Proteste im Iran haben das Potenzial, Weltgeschichte zu schreiben. Im Gastkommentar plädiert der Schriftsteller und Psychoanalytiker Sama Maani dafür, den Islam nicht als "Natureigenschaft" der iranischen Gesellschaft zu betrachten.

Der Tod Jina Aminis hat im Iran eine Protestwelle gegen das Regime ausgelöst. Weltweit, wie hier vor dem Brandenburger Tor in Berlin, solidarisieren sich Demonstrantinnen.
Foto: Reuters / Christian Mang

Unlängst diskutierte ich mit einem bekannten Sozialpsychologen über die Begriffe "Islamophobie" und "antimuslimischer Rassismus", in denen sich aus meiner Sicht die Kategorien Rassismus, religiöser Hass und Religionskritik in falscher und fataler Weise vermischen. Ich wies darauf hin, dass die Herrschenden im Iran diese Begriffe verwenden, um Kritikerinnen und Kritiker mundtot zu machen, und erwähnte dabei auch den Kopftuchzwang. Mein Gesprächspartner reagierte mit den Worten: "Der Iran ist mir wurscht!"

"Internationale Solidarität, einst Grundprinzip von Linken jeder Couleur, scheint heute generell aus der Mode gekommen zu sein."

In den "linken Kreisen", in denen unser Sozialpsychologe verkehrt, kräht seit Jahren kein Hahn mehr nach dem Iran. Zwar scheint die Bereitschaft zu jener von Che Guevara "Zärtlichkeit der Völker" genannten internationalen Solidarität, einst Grundprinzip von Linken jeder Couleur, heute generell aus der Mode gekommen zu sein. Allerdings steht die Empörung, die etwa den Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien (nicht nur seitens der Linken) zuteilwird, in erstaunlichem Gegensatz zum relativen Desinteresse, mit dem westliche Öffentlichkeiten etwa auf die Proteste im November 2019 im Iran reagierten, bei denen in wenigen Tagen mehr als 1500 Menschen erschossen wurden.

Seit Beginn der Protestwelle, die ausgelöst durch die Ermordung Jina (Mahsa) Aminis durch die Sittenpolizei über das Land rollt, steht der Iran nun im Zentrum des Interesses der Weltöffentlichkeit. Was bedeutet diese revolutionär anmutende Bewegung für uns? Und warum hätten die gesellschaftlichen Entwicklungen im Iran längst schon unsere Aufmerksamkeit verdient?

1979 betrat mit dem Sieg der Islamischen Revolution im Iran ein neuer Feind des Westens die Bühne der Weltpolitik: der sogenannte politische Islam. Damit hatte niemand gerechnet. Zuvor hatten die USA im Kampf gegen den Sowjetkommunismus im Gegenteil auf den "Faktor Islam" gesetzt. Und das, man denke an den Afghanistan-Krieg, durchaus mit Erfolg.

Video: Wie wehendes Haar zum Symbol des Widerstands wurde
DER STANDARD

Emanzipation von Religion

Nun könnten aber die Entwicklungen im Iran die Weltordnung ein weiteres Mal revolutionieren. Anfang 2021 berichtete Deutschlandfunk von einer repräsentativen Umfrage, wonach 70 Prozent aller Iranerinnen und Iraner sich nicht als schiitische Muslime betrachten. Der schiitische Islam ist bekanntlich die Staatsreligion im Gottesstaat Iran. Diese und ähnliche Befunde aus anderen islamisch geprägten Ländern stehen im krassen Gegensatz zu unseren Grundannahmen über Menschen aus islamisch geprägten Ländern. Grundannahmen, die auf der unausgesprochenen Vorstellung beruhen, der Islam sei eine Art Natureigenschaft dieser Menschen. Und die Voraussetzung für rechte Verschwörungstheorien wie jene vom "Großen Austausch" bilden, wonach die Bevölkerung Europas nach und nach durch "Muslime" ersetzt werden soll.

"Viele erliegen dem Missverständnis, es sei 'antirassistisch', eine Glaubenslehre zu verteidigen."

Auf der anderen Seite sitzen aber auch viele Linke und Liberale, ohne es zu bemerken, der Vorstellung vom "Islam als Natureigenschaft" auf. Jene, die das rechte Ressentiment gegen Menschen aus islamisch geprägten Ländern zwar zu Recht als rassistisch verurteilen, aber nicht verstehen, dass der neue Rassismus, wie es der linke Theoretiker Sami Alkayial beschreibt, gerade darin besteht, Individuen auf ihre (tatsächliche oder vermeintliche) Religion zu reduzieren. Und die – statt diese fixe Verknüpfung zu kritisieren – dem Missverständnis erliegen, es sei "antirassistisch", eine Glaubenslehre zu verteidigen. Eine Haltung, die in falschen Begriffen wie "antimuslimischer Rassismus" oder "Islamophobie" zum Ausdruck kommt.

Bisher bestimmt die "volle Identifizierung" ganzer Gesellschaften mit dem Islam (neben sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen) auch die europäische Außenpolitik gegenüber dem Iran. Denn: Solange politische Akteure in Europa den Islam als "Natureigenschaft" der iranischen Gesellschaft betrachten ("Das ist halt deren Kultur"), muss ihnen jeder gesellschaftliche Fortschritt, etwa in Richtung Frauenrechte oder Demokratie, ausschließlich innerhalb der Sphäre des Islam möglich scheinen, im Rahmen eines reformierten, "liberalen" Islam. Eine Sichtweise, die den – im Iran längst diskreditierten – systemtreuen Reformern zugutekam. Die Emanzipation der iranischen Gesellschaft von Religion schien einer solchen Sichtweise nicht einmal denkmöglich. Ein aufmerksamer Blick auf die Entwicklungen im Iran könnte nun helfen, diese Grundannahmen gründlich zu revidieren.

Von Frauen geführt

Realpolitisch hätte ein Erfolg der Protestbewegung, also der Sturz des Regimes, über den Iran hinaus weitgehende Folgen für die gesamte Region. Nicht nur die Gefahr, die von der drohenden atomaren Bewaffnung der Islamischen Republik für Israel ausgeht, wäre gebannt und ein regionales atomares Wettrüsten verhindert. Auch die Chancen auf einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten würden sich signifikant erhöhen, hat doch das Regime, neben seiner Unterstützung antiisraelischer Terrorgruppen, bei fast allen regionalen Konflikten seine Hände im Spiel.

Über diese Perspektiven hinaus hat die feministische Revolution im Iran, eine von Frauen angeführte Revolution, mit dem Ziel, sich selbst, aber auch die Männer zu befreien, das Potenzial, Weltgeschichte zu schreiben. Angesichts dieser Erfahrung müsste man die These des SPD-Mitbegründers und Publizisten August Bebel (Die Frau und der Sozialismus), wonach die Befreiung der Frauen erst in einer gänzlich emanzipierten, aus seiner Sicht sozialistischen, Gesellschaft gelingen könnte, auf den Kopf stellen: Erst die Befreiung der Frauen – im Falle des Iran vom Kopftuch und von anderen Aspekten der Unterdrückung – ermöglicht die Befreiung der ganzen Gesellschaft. Auch jene der Männer. (Sama Maani, 7.10.2022)

Nahostexpertin Harrer über Proteste im Iran: "Es sind nicht alle gegen die Religion"
DER STANDARD