Denkt man an das Leben im Meer, malt man sich vielleicht sonnendurchflutete Korallenriffe nahe der Meeresoberfläche aus, durch die bunte Fischschwärme ziehen. Oder man hat die dunkle Tiefsee vor Augen mit ihren bizarren Kreaturen, die einem Albtraum entsprungen scheinen. Doch was liegt eigentlich dazwischen? Die Übergangszone in einer Tiefe von 30 bis 150 Metern, in der das einstrahlende Licht der Sonne immer rarer wird, ist für die meisten Menschen eine unbekannte Sphäre. Auch in der Wissenschaft ist diese mesophotische Zone, wie sie fachsprachlich genannt wird, vergleichsweise unterbelichtet. Lange hat man vermutet, dass diese "Twilight-Zone" ein Rückzugsort für die Arten der oberflächennahen Gewässer sein könnte.

Die sogenannte mesophotische Zone in Wassertiefen zwischen 30 und 150 Metern ist kaum erforscht – und doch gefährdet. Luiz Rocha hat sich dieser Welt zwischen Oberfläche und Tiefsee verschrieben.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

Luiz Rocha konnte unter anderem zeigen, dass das nicht der Fall ist. Der Professor an der California Academy of Sciences in San Francisco führte mit seinem internationalen Team vor Augen, dass die mesophotischen Riffe eigene Lebensräume bilden, die sich von den oberflächennahen Ökosystemen stark unterscheiden – und deren biologische Zusammensetzung noch weitgehend unbekannt ist. Auch hier gibt es Korallenwälder mit spezifischen Arten und Lebensgemeinschaften. Die Twilight-Zone ist kaum ein Rückzugsort für Arten, die vor Verschmutzung, Tourismus oder Schifffahrt flüchten. Im Gegenteil: Dieser Bereich ist ebenso vom Einfluss der Menschen betroffen und muss geschützt werden, wie die Forschenden in einer Studie im Fachjournal Science ausführen.

Riffe könnten noch vor Entdeckung verloren gehen

"Da wir nichts über Tiefseekorallenriffe wissen, stehen die meisten von ihnen nicht unter Schutz", sagt Rocha. Und das möchte der erfahrene Wissenschafter und Taucher ändern. In einer neuen Expedition widmet er sich der Unterwasserwelt, die die Inselgruppe der Malediven im Indischen Ozean umgibt.

Auch dort, in den tieferen Regionen der Atolle, soll es Korallenriffe geben. "Auch wenn sie bisher niemand gesehen hat, wissen wir, dass sie dort sind", ist sich Rocha sicher. Würde er diese Lebensräume nicht erkunden, könnten sie verloren gehen, noch bevor sie von der Wissenschaft wahrgenommen werden. "Jeder Tauchgang führt zur Entdeckung neuer Arten", sagt der Meeresforscher.

Luiz Rocha hat bereits über 6000 Stunden unter Wasser verbracht. "Jeder Tauchgang führt zur Entdeckung neuer Arten", sagt der Zoologe.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

Magische Anziehungskraft

Rochas Weg in die Tiefen der Meere nahm an der Küste Brasiliens seinen Ausgang. Hier wuchs er auf, hier lernte er bereits als Teenager tauchen, und hier wurde auch seine Faszination für das Leben in den Ozeanen geweckt. "Ich entschied mich im Alter von fünf oder sechs Jahren, dass ich Biologe werden wollte. Das Meer und das Meeresleben übten schon immer eine große Anziehungskraft auf mich aus", erinnert er sich heute. Nach seiner Ausbildung in Brasilien schloss er sein Doktorat an der University of Florida in den USA ab.

Um die mysteriösen Korallenwälder im Halbdunkel überhaupt erreichen zu können, fehlte ihm aber noch eine weitere Expertise: das Tauchen in großen Tiefen. Bereits vor zwanzig Jahren begann er die sehr technischen, komplexen und auch riskanten Verfahren zu erlernen, die ihn weit unter die übliche Sporttauchergrenze von 40 Metern bringen sollten. Es bedurfte an Expertise zu technischem Tauchen, Mischgastauchen und Kreislauftauchgeräten, die die Atemluft nach Abscheidung des ausgeatmeten CO2 wiederverwerten können.

Komplexe Tauchgänge

Rocha hat bisher an 70 wissenschaftlichen Expeditionen teilgenommen und dabei über 6000 Stunden unter Wasser verbracht. Er und sein Team sind bis heute eine der wenigen Gruppen in der Meeresforschung weltweit, die solche Tauchgänge selbst durchführen. U-Boote würden sich für seine Arbeit dagegen nicht eignen, sagt Rocha. Für die Erforschung der scheuen Fische wären sie zu groß und plump. Das wäre so, als würde man die Vögel des Regenwaldes mit Hubschraubern erforschen wollen, vergleicht er in einem CNN-Interview.

Auch aufgrund der komplexen Tauchtechnik sind die Malediven ein guter Ausgangspunkt für die Expeditionen. Auf den Inseln sind die Infrastrukturen vorhanden, die ein tägliches Tauchen dieser Art ermöglichen. Gleichzeitig gibt es hier auch ein starkes Interesse daran, die tiefen Korallenriffe und ihr Zusammenspiel mit den oberflächennahen, vom Klimawandel bedrohten Pendants zu erforschen.

"Selbst an Orten wie den Malediven sind die meisten Tiefwasserriffe nicht geschützt, weil die Regierung größtenteils nicht einmal weiß, dass es sie gibt", sagt Rocha. Für ihn ist es wichtig, Einwohner und Verwaltungen von Küsten- und Inselstaaten möglichst mit einzubeziehen. Auch auf den Malediven arbeitet er mit dem Fischereiministerium und lokalen Wissenschaftern zusammen. Die Einbindung lokaler Bewohner in die Projekte soll auch einen neuen "Besitzerstolz" gegenüber der besonderen Unterwasserwelt hervorrufen.

Das Abtauchen zu den Riffen ist kompliziert und gefährlich – U-Boote kommen nicht infrage.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

In einer ersten Expedition im Zuge des Maledivenprojekts, das dank eines Preises für Unternehmergeist der Uhrenmarke Rolex mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet ist, konnten Rocha und sein internationales Team bereits acht neue Fischarten beschreiben. Mehr sollen folgen. Bei Forschungen im Pazifik konnten beispielsweise zehn neue Spezies pro Stunde Aufenthalt in der tiefen Rifflandschaft entdeckt werden. Diese Rate könnte an den noch wenig erforschten Malediven-Atollen noch weiter steigen.

Fisch im Aufzug

Pro Tauchgang stehen allerdings lediglich sieben bis zehn Minuten in der maximalen Tiefe zur Verfügung, um Aufzeichnungen zu machen und DNA-Proben zu nehmen. Nach der kurzen, hochkonzentrierten Forschungsarbeit steht aufgrund der nötigen Dekompressionszeit ein langer, fünf bis sechs Stunden währender Aufstieg bevor. Neue Fische, die gefangen werden können, fahren dagegen mit dem Aufzug – sie werden in einer Dekompressionskammer nach oben und ins Labor befördert.

Die schillernden Namen der neu entdeckten Spezies reflektieren die Farbenpracht, die auch noch in diesen Tiefen anzutreffen ist. Der Lavendel-Zwerglippfisch, Cirrhilabrus lineatus, gehört dazu, genauso wie sein ebenso bunter Verwandter, Cirrhilabrus finifenmaa. Dessen englischer Name lässt sich mit Rosenschleier-Zwerglippfisch übersetzen – eine Anspielung auf ein Nationalsymbol der Malediven, die Rose. Andere Fische wurden auch bereits nach der Göttin Aphrodite oder dem Comic-Land Wakanda getauft.

Rochas Forschungen geben einen Rahmen für viele Meeresschutzbemühungen weltweit, die den Druck von den Fischökosystemen nehmen sollen. "Für mich sind sie wie Kunstwerke", sagt der Meeresforscher. (Alois Pumhösel, 21.10.2022)